Ich war gerade 25 Jahre alt geworden, als ich mich entschloss, meinem langjährigen Freund Fritz nach Äthiopien zu folgen. Wie war ich doch glücklich und froh, als der Tag kam, an dem Fritz mit mir den Mittelgang der kleinen modernen lutherischen Kirche in Addis Abeba entlang schritt. Wir kannten uns schon seit fünf Jahren und endlich war der Tag unserer Hochzeit gekommen!
Es war genau ein Jahr zuvor gewesen, als Fritz an einem Samstagabend seine Arbeit im Ghion Imperial Hotel in Addis Abeba beendet hatte und sich entschloss, zu seinem Freund nach Awassa zu fahren. Der Mann war ebenfalls Schweizer und Manager eines Hotels, das etwa 200 km entfernt in Richtung Somalia lag. Es bestand ein gewisses Risiko, um Mitternacht alleine durch die Steppe und unbeleuchtete Dörfer zu fahren. Zu seiner Sicherheit und damit er nicht alleine unterwegs war, nahm er seinen vertrauten Schäferhund vom Hotel mit. Als er um die Hälfte der Strecke zurückgelegt hatte und am Langano See vorbei fuhr, sah er, wie auf beiden Straßenseiten kleine Lämpchen aufleuchteten. Er fuhr etwas langsamer und realisierte, dass es die Augen der Hyänen und anderer Wildtiere waren. Es war ihm schon etwas ungemütlich zumute. Sollte ihm etwas passieren, wäre er hier in der Wildnis verloren. Autos gab es fast keine mehr um diese Zeit. Hotels fand man auf dieser Strecke nicht, nur einfache Herbergen, die nachts kaum zu finden waren. Endlich kam er in Awassa an. Es hatte noch Licht im Hotel oder besser gesagt Motel, denn es bestand aus lauter kleinen luxuriösen Rundhäusern, sogenannten Dukuls.
Am nächsten Morgen schwang er sich in den Sattel eines Pferdes, das er schon öfters geritten hatte. Ja, schon seit er ein kleiner Junge war, hatte er eine Leidenschaft zu reiten und der Ort im Dschungel war gerade richtig dazu. Also trabte er dem See entlang und ritt nur dort weiter, wo es Pfade hatte – gefolgt vom treuen Schäferhund. Was dann passierte, weiß er nicht mehr. Als nach einiger Zeit das Pferd alleine, wankend und mit einer offenen Wunde vorne an der Brust zum Hotel zurück kam, wusste man, dass Fritz etwas passiert war. Der Manager und ein paar Leute gingen auf die Suche, denn Fritz sagte immer, wohin er reiten würde. Nach einiger Zeit hörten sie den Hund bellen. Sie fanden Fritz bewusstlos unter dem Gestrüpp und das treue Tier daneben. Sie brachten ihn mit dem Auto vorsichtig in die nächste Klinik, aber dort waren sie nicht ausgerüstet für so einen schweren Fall. Darum transferierte man ihn in bewusstlosem Zustand auf dem Hintersitz im Auto seines Freundes zurück nach Addis Abeba, wo er ins Haile Selassie Spital eingeliefert wurde.
Was war nur geschehen? Man wird es nie genau wissen. Eines ist sicher: Etwas traf Fritz am Kopf. Was man sich vorstellen konnte war, dass das Pferd von einem wilden Tier angegriffen wurde oder von den Wilden, die man dort antraf. Das Pferd musste zusammen mit Fritz gestürzt sein. Als es dann aufstehen wollte, traf es Fritz wohl mit dem Huf am Kopf. Gott sei Dank, dass der Hund Tina bei ihm geblieben war und die Aufmerksamkeit des Managers auf sich gerichtet hatte!
In Addis angekommen, rief sein Freund den Direktor des Ghion Imperial Hotels an und meldete Herrn Teufel die schlechte Nachricht. Dieser begab sich sofort ins Spital und suchte den Chefarzt auf, der ein Deutscher war. Der Chefarzt wusste nicht Bescheid über den Fall. Er fand Fritz in einem Gang des Spitals auf einer Bahre liegend am Boden. Keiner wusste, wer der fremde Weiße war und wer die Rechnung bezahlen sollte. Als sie ihn aber fanden und Herr Teufel bestätigte, dass es sich um Fritz Erhard handelte, bekam er ein Einzelzimmer und die nötige Pflege.
Leider lag Fritz nach einer Woche immer noch im Koma. Es wurde beschlossen, ihn zu operieren. Doch die Operation half nicht sofort und Fritz blieb in seinem tiefen Schlummer. Herr Teufel war sehr besorgt über der Situation, so auch die Eltern von Fritz. Die Verantwortlichen vom Spital suchten nach einer Lösung und setzten sich darum mit den amerikanischen Ärzten in Asmara (Eritrea) in Verbindung, wo damals amerikanische Truppen stationiert waren. Die Ärzte schlugen vor, Fritz das Medikament zu geben, das sie normalerweise ihren verletzten Soldaten gaben, die sich in einem Koma befanden. Falls es überhaupt möglich war, Fritz wieder zurück zu bringen, sollte dies helfen. Zur großen Erleichterung von Familie und Freunden half das Medikament!
In – und aus dem Körper
Zwei Wochen hatte der bewusstlose Zustand von Fritz gedauert, bis er von seinem Koma aufwachte. Am Anfang war ihm nicht bewusst, was passiert war und wo er war; alles war so fremd. Er wollte lieber wieder zurück, wo er vorher gewesen war, denn dort war alles viel schöner. Ich versuchte es wieder mit jemanden zu sprrechen, aber keiner antwortete oder reagierte auf das, was ich sagte. Ich wollte mit ihnen reden, denn ich hatte ja keine Ahnung, wo ich mich befand und was passiert war. Ich ging zum Eingang des Zimmers und wollte die Leute aufhalten, damit sie endlich mit mir sprechen würden, aber das Verrückteste passierte: Sie gingen einfach durch mich hindurch! Ich war schockiert als ich sah, wie die Schwestern kamen und mir Spritzen gaben und es überraschte mich, dass ich überhaupt nichts spürte. Auf einmal fühlte ich mich sehr leicht und stellte fest, dass es möglich war, in der Luft zu schweben. Im Bett sah ich meinen Körper liegen und ich schaute zu, wie die Ärzte oder das Pflegepersonal an mir arbeiteten. Ich konnte durch Türen und Wände gehen und so ging ich auch aus dem Fenster. Das war ganz toll! Ja, ich konnte fliegen, hatte weder Sorgen noch Ängste, keine Schmerzen oder Hunger sondern nur eine Glückseligkeit, die ich vorher nie gekannt hatte. Ich flog zu den Wolken empor. Sobald jemand in mein Zimmer kam, war ich wieder zurück in meinem Körper. Es war eine wunderbare Zeit.“
Dieses innige Glücksgefühl, das Fritz erleben durfte, schlummerte immer noch tief in ihm, als er erwachte. Er wollte nicht mehr ins alte Leben zurückkehren, denn das andere war viel schöner gewesen. Nun konnte er auf einmal mit dem Pflegepersonal reden und auch der Chefarzt sprach mit ihm und erklärte ihm, was passiert war und wo er sich befand. Er konnte es kaum glauben und sehnte sich zurück nach seinem früheren Zustand. Als er allein im Zimmer war, wollte er das Bett verlassen, aber er fiel zu Boden, wo man ihn später fand. Er war nämlich auf der ganzen rechten Seite gelähmt, konnte nicht mehr gehen und auch seine rechte Hand nicht mehr gebrauchen. Beim Essen spürte er die rechte Seite des Mundes nicht und oft kam es vor, dass er sich dabei auf die Zunge biss und es blutete. Er war nicht sofort derselbe und wenn ihn Freunde besuchten, vergaß er das, sobald sie das Zimmer verlassen hatten. Er war einfach immer glücklich und war sich nicht bewusst, in welcher Situation er sich befand.
Margrit, die Schwester von Fritz, arbeitete damals als Stewardess bei der Swissair und kam von Zürich nach Addis Abeba mit der Absicht, ihn zurück in die Schweiz zu holen. Als sie ihm klar machte, dass sie zusammen in die Schweiz fliegen würden, protestierte er kräftig, denn er war zufrieden, wo er war. Doch dann fing er an, über seinen Zustand nachzudenken. Was sollte das ganze Drum und Dran? Nach gründlichem Überlegen kam er zum Schluss, dass er – wenn er im Flugzeug sei und es abfliegen würde – wirklich noch lebe und auf der Erde sei.
Der Tag kam, als sie ihn – mit seiner Schwester an der Seite – auf der Bahre in einen Ambulanzwagen schoben. Sie erklärte ihm freundlich, dass sie nun in die Schweiz fliegen würden. Erneut widersprach er, doch als er das Flugzeug sah und sie ihn auf der Bahre hinauftrugen und auf vier Sitze legten, wusste er, dass er tatsächlich noch auf dieser Welt war. Der deutsche Chefarzt kam mit, um gleich zur Stelle zu sein, falls etwas passieren sollte. Ethiopien Airline flog nach Khartum und dort wechselten sie auf eine Maschine der Swissair. Diese flog zuerst nach Kairo, dann nach Zürich. Damals, im Jahre l966, hatte die Swissair noch DC 6 im Einsatz und sie flogen noch nicht so lange Strecken. Der Luftdruck im Flugzeug gab Fritz starke Kopfschmerzen und er fühlte sich unwohl. Es wurde ihm auf einmal bewusst, dass nun das schöne sorglose Leben auf der anderen Seite Vergangenheit war. Als sie in Zürich landeten, wurde er auf der Bahre aus dem Flugzeug getragen. Ein Krankenwagen stand bereit. Seine Eltern hatten die Erlaubnis erhalten, ihn zu sehen, bevor er ins Universitätsspital Zürich eingeliefert wurde. Fritz erzählte später, dass diese Begegnung sehr schlimm für ihn gewesen war. Als die Eltern ihn sahen, rollten ihnen die Tränen die Wangen hinunter. Ebenfalls unter Tränen versuchte er, ihnen die Situation zu erklären, so gut er konnte. Er wusste selber nicht, wie er aussah, denn er hatte sich seit dem Unglück nie in einem Spiegel gesehen. Alle Haare auf dem Kopf waren weg und an beiden Seiten des Kopfes sah man noch die frischen Narben, wo sie die Löcher gebohrt hatten.
In der Physiotherapie
Nach einer gründlichen Untersuchung an der Universitätsklinik in Zürich begann Fritz mit Physiotherapie. Das Gefühl auf der rechten Seite war total unterbrochen und er konnte das Bein nicht bewegen. Er lernte das Bein zu gebrauchen, schleppte es aber nur nach, weil er das Knie nicht beugen konnte. Während einer Therapiestunde nahm eine Therapeutin den rechten Arm und drückte ihn nach oben. Fritz schrie vor Schmerzen und ließ sich nicht mehr beruhigen. Er wollte diese Therapeutin nicht mehr sehen. Schnell wurde ein Arzt gerufen und das Resultat war, dass Fritz am nächsten Tag ins Kantonsspital von Aarau verlegt wurde. Dort versuchte man es mit anderen Methoden. Er sollte schwimmen. Der linke Arm ging mit voller Kraft, aber der rechte zog nur nach und so ging es immer rundherum… Als nichts half, entschlossen die Ärzte, ihn nach Hause zu entlassen. Sein Vater sollte ihn jeden Tag ins Spital bringen, um ihn dort mit Schocktherapie behandeln zu lassen. Nach bis nach konnte er bei der Behandlung den Strom bis an den Hals spüren, aber weiter ging es nicht. In dieser Zeit kamen einige Freunde von ihm zu Besuch und viele Leute beteten für ihn, denn so wie es aussah, würde er nie wieder eine gute Arbeit bekommen. Nur Gott konnte helfen und das tat er auf eine unbegreifliche und wundersame Weise.
Es war an einem Samstag, Vater und Sohn fuhren wie schon seit einigen Tagen von Kölliken nach Aarau ins Spital. An diesem Samstag hatte es viele Patienten. Weil er schon einige Male in Behandlung gewesen war und das Personal ihn kannte, sagte die Verantwortliche zu einer Hilfsschwester, sie solle ihn gleich an einen Apparat anhängen. Sie half ihm in den Stuhl, befestigte die beiden Metallringe am Unter- und Oberarm und machte den Strom an, ohne vorher zu kontrollieren, wie hoch das Gerät eingestellt war. Anstatt ihm nur ein wenig Strom zu geben, drehte sie den Schalthebel auf die falsche Seite und Fritz bekam die volle Ladung Strom. Sein elektrisierter Arm flog in der Luft herum, während er um Hilfe schrie. Die Therapeutin kam schleunigst gerannt, stellte den Strom ab und entschuldigte sich sehr. Völlig erschöpft nach dieser intensiven Behandlung und mit stark pochendem Herzen sackte Fritz im Stuhl zusammen. Stöhnend erklärte er, dass er große Schmerzen hätte in seinem Kopf und das Herz schlage wie verrückt. Ein Arzt wurde gerufen und untersuchte ihn. Fritz erklärte ihm, dass es oben auf seinem Kopf sehr fest weh tat und es sei, als ob jemand brennende Kohlen darauf gelegt hätte. Der Arzt warf ihm einen erstaunten Blick zu und sagte: „Nun ist die Verbindung zum Hirn wieder in Ordnung und alles wird sich von selbst lösen.“ Fritz glaubte, dass nun die ganze Welt verrückt war. Vor ein paar Minuten dachte er, er würde sterben und jetzt sollte er geheilt sein?
In den nächsten drei Tagen fing ein Kribbeln auf der rechten Körperseite an. Es fühlte sich an, wie wenn eine Hand oder ein Fuß im Winter eingefroren wäre und langsam das Gefühl zurückkommen würde. Fritz lernte wieder, seine Hand zu gebrauchen und selber zu gehen. Zuerst stützte er sich an der Wand ab, aber bald konnte er wieder normal gehen. Die Lähmungserscheinungen verschwanden langsam und wir alle dankten Gott für sein Wunder, das er an Fritz auf eine so ungewöhnliche Art und Weise vollbracht hatte.
Zurück in Äthiopien
Drei Monate nach dem Unfall war Fritz wieder bei seiner Arbeit als Küchenchef im Ghion Imperial Hotel in Addis Abeba. Ich selbst arbeitete zu dieser Zeit in der Schweiz in einem Seniorenheim, um Deutsch zu lernen. Wir planten, dass ich nach einem halben Jahr nachkommen sollte. So besprachen wir das auch mit seiner Familie. Sobald die Papiere in Ordnung waren, wollten wir heiraten.
Seit meiner Kindheit hatte ich davon geträumt, in Afrika als Krankenschwester zu arbeiten. Ich hatte in Dänemark eine Ausbildung in Krankenpflege absolviert, doch dann zog es mich nach Norwegen, wo meine Schwester Lise sich aufhielt. In Oslo fand ich eine gute Arbeit im Städtischen Spital auf der Spezialabteilung für Hautkrankheiten.
Ich fühlte mich schnell zu Hause unter den Norwegern. Nach einem Jahr konnte ich es so einrichten, dass ich nur Abenddienst hatte. Tagsüber besuchte ich eine Handelsschule. Es war ein hartes halbes Jahr, aber es hatte sich gelohnt. Meine beste Note war in der norwegischen Sprache.
Fritz und ich hatten uns in Holmenkollen kennen gelernt. Kurz darauf reiste er für ein halbes Jahr nach Israel. Er und einige anderen Kollegen aus der Schweiz bekamen den Auftrag, das renommierte Cesarea Golf Hotel, das der Rothschild Familie gehörte, zu eröffnen. Danach kam er wieder nach Oslo zurück ins gleiche Hotel. Doch er blieb nur für ein halbes Jahr, denn er hatte sich bei einer Sprachschule in Südengland angemeldet. Nach einem kurzen Besuch bei meinen Eltern in Dänemark verreisten wir dann zusammen nach England. Ich fand sofort eine Stelle in einem Spital. Der Aufenthalt von Fritz dauerte ein halbes Jahr.
Danach machte er ein Praktikum in einem Büro des Hotels, in dem er Koch gelernt hatte. Doch während dieser Zeit wurde ihm klar, dass es nicht seine Richtung war. Er nahm eine Stelle in Pontresina an, wo er als Sous-Chef arbeitete. Er blieb für zwei Saisons in diesem Hotel, dann kam er zu einer Chefposition in Äthiopien.
Damals arbeitete ich in Zürich in einem Alterspflegeheim und überlegte mir gründlich, ob ich ihm nachreisen sollte. Deshalb hatten wir auch ein halbes Jahr lang keinen Briefwechsel. Doch dann passierte der Unfall von Fritz.
Nach dem Spitalaufenthalt besuchte ich ihn zu Hause bei seinen Eltern. Fritz war voller Zuversicht und machte mir einen Heiratsantrag. Alles kam mit Gottes gütiger Hilfe so wunderbar, dass unsere Pläne in Erfüllung gingen. Er wurde schnell wieder gesund und konnte seine Arbeit in Addis Abeba wieder aufnehmen. Wir beschlossen, dass ich meinen Beruf aufgeben – und zu ihm reisen würde. Ich war begeistert und freute mich auf den neuen Abschnitt in meinem Leben, mit Mann und Kindern. Ich kaufte mir ein Hochzeitskleid sowie neue Kleider und einen Fotoapparat und war bereit für das große Abenteuer.
Dann fiel die große Bombe. Fritz schickte mir ein Telegramm: „Bitte komm nicht, denn in Israel ist der Krieg mit den Arabern ausgebrochen und alle Flüge im Krisengebiet sind gestrichen.“ Niemand wusste, was jetzt kommen würde. Ich war sehr enttäuscht, es war kurz vor meiner Abreise. Sollten alle unsere Zukunftspläne ins Wasser fallen? Im Bett grübelte ich lange darüber nach doch – Gott sei Dank – nach sechs Tagen war alles vorbei und nicht lange danach konnte man wieder fliegen.
Aber dann platzte die zweite Bombe: Fritz schickte ein Telegramm mit der Mitteilung, er habe die Kündigung erhalten. Ich solle aber trotzdem kommen, schrieb er, er wolle mir das Land zeigen und heiraten würden wir auch. Ich packte den Koffer – gekündigt hatte ich schon seit einiger Zeit – und flog in eine ungewisse Zukunft.
In Addis Abeba war Fritz Küchenchef im Ghion Imperial Hotel, das zur Kaiser Haile Selassie Stiftung gehörte. Der Direkter Herr Teufel ging in die Ferien und übergab Fritz den Auftrag, die Einnahmen der Restaurants zu kontrollieren und mit der Buchhaltung zu vergleichen, was er auch tat. Jeden Tag fehlten 200.- bis 300.- Dollar. So ging es ein paar Wochen, bis bekannt wurde, dass Herr Teufel nicht mehr zurückkommen würde. Sein Assistent, ein Äthiopier, war in der Zwischenzeit Direktor geworden. Er stellte viele Sachen um. Fritz wurde mitgeteilt, dass er Chef sei in der Küche und nichts mit den Einnahmen zu tun habe. Fritz protestiert, denn er merkte, dass Geld verschwand und seine Kosten vom Essen stiegen. Dann erhielt er auf einmal vom Board of Directors die Kündigung.
Nicht weit von der Mauer des Kaiserpalastes entfernt hatte das Hotel einige luxuriösen Bungalows und dort wohnte ein Mister Alexander. Er war der Sohn des letzten Königs Faruk von Ägypten und hatte einige Fabriken in Äthiopien. Wann immer er Gäste hatte, rief er Fritz zu sich und besprach mit ihm Menu- und Getränkevorschläge. Ebenfalls wünschte er, dass das Essen von ihm zubereitet würde. Kurz vor dem Abschied erwähnte Fritz nebenbei, dass dies das letzte Gesellschaftsessen war, das er für ihn zubereitet hatte. Ganz überrascht fragte er ihn, weshalb. Fritz erzählte ihm die Geschichte, besonders das, mit dem fehlenden Geld, denn sonst konnte es kein anderer Grund sein, da die Restaurants gut besetzt waren und auch die Bankette sehr zunahmen. Mister Alexander hörte sich alles an und sagte, er müsse sich überlegen, was er machen könne. Zwei Tage später erhielt Fritz einen Brief vom Board of Directors, in dem stand, dass die Kündigung annulliert worden war, weil sie falsch informiert gewesen waren. Später erfuhren wir, dass Mister Alexander gelegentlich den Kaiser besuchte, dieser Einfluss hat wahrscheinlich die Stelle von Fritz gerettet.
Eine Beerdigung
Nach diesem Vorfall war der Direktor des Hotels, der versucht hatte, Fritz zu entlassen, auf einmal etwas freundlicher zu uns. Nicht lange danach hatten wir ein gemeinsames Mittagessen auf der überdachten Veranda des Hotels.
Das nächste Ereignis ließ nicht lange auf sich warten. Der Direktor hatte zusammen mit ein paar Freunden auf dem Weg vom Land in die Stadt einen Autounfall. Sie fuhren mit überhöhter Geschwindigkeit, wollten ein anderes Auto überholen und unterschätzten dabei das Tempo des entgegenkommenden Militärfahrzeugs. Alle starben auf der Stelle.
In Äthiopien werden die Toten noch am gleichen Tag beerdigt. Da der Unfall am Abend passierte, fand die Beerdigung erst am nächsten Morgen statt. Viele Angestellte des Hotels nahmen an der Beisetzung teil. Für uns war alles ein großes Drama, das wir aus erster Hand miterleben konnten. Vom Haus des Verstorbenen brachte ein Auto den Sarg zur orthodoxen Kirche. Vor dem Auto gingen weinende Frauen mit großen Bildern des Verstorbenen. Gelegentlich standen sie still, weinten wie verrückt oder knieten auf den Boden und schrien: „Komm wieder zurück! Ich ebne dir den Weg!“ Dazwischen schlugen sie sich kräftig auf die Brust. Nach der Ankunft in der orthodoxen Kirche wurde der Sarg unter der Begleitung von den Priestern, die wehklagend sangen und Weihrauch hin und her schwangen, einige Male um die Kirche getragen. Zuletzt standen alle Trauergäste in einem großen Kreis um das Grab herum und die Klageweiber gaben ihr Bestes. Sie tanzten und weinten. Es war so traurig, dass auch uns die Tränen in die Augen kamen. Ich warf einen Blick auf den kleinen Berg, der hinter der Kirche lag. Die Strahlen der Sonne glänzten unter den niedrigen Bäumen und überfluteten die ganze Trauerschar.
Diese Beerdigung hinterließ einen großen Eindruck auf uns. Wahrlich, die Afrikaner verstehen es, ihre Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Hierfür bekamen wir während den vier Jahren unseres Aufenthaltes noch einige Beweise.
Unsere Hochzeit
Schlussendlich hatten wir alle Papiere zum Heiraten beieinander. Die ganze Prozedur dauerte ein halbes Jahr. Der Grund für das lange Warten war, dass ich als Dänin und Fritz als Schweizer in Äthiopien heiraten wollten. Die Bürokratie damals ging nicht so schnell voran.
Die Zeremonie fand in einer kleinen Kirche von der deutschen Gemeinde statt. In der Mitte der Kirche, in der Nähe des Altars, befand sich eine Öffnung im Dach und von da aus sah man, wenn man hinauf schaute, den blauen, klaren Himmel. Das symbolisierte das Innerste eines jüdischen Tempels, das nun für uns Christen offen steht.
Nach der Trauung fuhren wir und unsere Gäste nach Koka-Dam ins Galila Palace und feierten dort die Hochzeit.
Zur damaligen Zeit, im Jahr l967, flog man noch nicht so viel um die Welt, wie wir es heute tun. Daher waren unsere Familien nicht an unserer Hochzeit. Stattdessen luden wir Freunde aus der schweizerischen und dänischen Kolonie, sowie äthiopische Freunde ein. Auch der Chefarzt vom Haile Selassie Spital, der Fritz operiert hatte durfte – zusammen mit seiner Frau – nicht fehlen. Als wir in den Park des Galila Palace einfuhren, warteten alle Gäste und Angestellten auf uns und standen Spalier. Aufgeregt und glücklich umarmten wir uns alle, bevor wir uns zum wunderbar gedeckten Tisch begaben. Ich fühlte mich wie die Prinzessin in einem Märchen. Was konnte ich mir noch mehr wünschen?
Nach dem Essen entspannten wir uns mit den Gästen in den wunderschönen Gartenanlagen. Zur perfekten Hochzeit kam eine große Überraschung. Das Appartement, das Fritz im Ghion Imperial Hotel bestellt hatte, war an den amerikanischen Botschafter vergeben worden. Fritz hatte das Appartement durch den Manager des Hotels reserviert und – da wir nicht bezahlen mussten, weil es ein Geschenk des Hotels war und zur gleichen Hotelkette gehörte, schrieben sie einfach: besetzt wegen Reparatur. Als dann ein paar Tage später eine Reservation von der US Ambassade kam und nur ein Kellner das Telefon im Galia Palace abnahm, sagte er zu, weil er überzeugt war, dass das Appartement bis dann repariert sein würde. Keiner bemerkte den Fehler und bis zu unserer Hochzeit waren dann alle Zimmer gebucht. Ganz bleich kam der Manager nach dem Essen zu Fritz und erzählte ihm, dass alle Zimmer belegt seien und er schlug uns vor, wir sollten zurück nach Addis Abeba fahren. Dieser Vorschlag gefiel uns nicht besonders gut. Der Manager erklärte, dass sich ein anderes kleines Hotel in der Nähe befinde, wo wir für eine Nacht bleiben könnten. Es sei nicht luxuriös, fügte er noch bei.
Wir willigten ein, denn wir waren beide müde. Die Türen im Hotel bestanden aus Wellblech mit einem Holzrahmen darum herum. Der Boden war zementiert. Ein Bett war rechts im Raum und das andere links. Ganz nach Sitte trug Fritz mich auf den Armen in den Raum. Ich zog dann die Vorhänge, aber die fielen gleich herunter, denn sie waren nur mit Wäscheklammern aufgehängt. Wir stellten fest, dass ein Einbauschrank oben keine Hinterwand hatte. Von dort kam frische Luft hinein. Ich drückte den Knopf der Nachtischlampe, die auf dem Tisch stand, aber mit einem Schrei zog ich meine Hand schnell wieder zurück, denn ein elektrischer Schlag fuhr durch mich. Wir schoben die beiden Eisenbetten zusammen, aber welch ein Pech: Eines war 30 cm niedriger als das andere. Mitten in der Nacht erwachte ich mit einem Schrecken auf. Was war das für ein Krach gewesen? Überall hörte man Stimmen aus den Zimmern. Fritz lag zwischen den beiden Betten und gab mir zu verstehen, still zu sein. Was war passiert? Mein frisch gebackener Ehemann war zwischen den beiden Betten auf den Boden hinunter gefallen. Ohne Licht zu machen, krochen wir wieder leise ins Bett zurück. Was für eine Hochzeitsnacht…
Früh am Morgen, es war um 4 Uhr, ging das Steppen – Orchester los. Alles Lebendige auf der Steppe wurde wach. Es hörte sich an wie eine Sinfonie von allen Tierarten. Der Hahn setzte mit einem lauten Gruß, den er energisch wiederholte, die Krone auf das Werk. Bald darauf packten wir unsere Sachen und zogen ins Galila Palace zurück und genossen dort müde, aber glücklich unser Frühstück. So eine Hochzeitnacht ist nicht vielen Menschen vergönnt!
Die nächsten Tage verbrachten wir mit Ausflügen in der Steppe und am Fluss, der in der Nähe des Hotels war. Hie und da sahen wir solid gebaute Termitenhaufen, die bis zu zwei Meter hoch werden konnten. Dann gab es den Wirbelwind, der den Sand wie ein Trichter in die Luft hinaufzog. Es sah aus wie ein altes Spinnrad, das die Fäden in den Himmel zog. Bevor die Sonne unterging, kamen die einheimischen Mädchen und Frauen mit ihren Blechkanistern, um Wasser am Fluss zu holen. Die Frauen hatten schöne geflochtene Haare mit vielen kleinen Zöpfen, die sie mit ranziger Butter eingestrichen hatten. Sie unterhielten sich fröhlich miteinander, kicherten verlegen und blickten auf die andere Seite, wenn sie uns sahen. Zur Sicherheit nahm Fritz die beiden Schäferhunde vom Hotel mit, die dort normalerweise Wache hielten. Die beiden Hunde waren aufgeregt und rannten vor – und hinter uns her. Von Zeit zu Zeit hoben sie ihre Köpfe und spitzten die Ohren, um Geräusche von wilden Tieren wahrzunehmen. Wir fühlten uns dabei sicher und geschützt.
Die Lage auf dem Land war damals sehr entwicklungsbedürftig. Viele Leute wohnten in Rundhäuser, die aus Lehm und Kuhmist gebaut waren, den sogenannten Tukuls. Je größer die Familie war, desto mehr kleinere Tukuls hatte es um das Elternhaus herum. Ein mit Bambus oder mit gewöhnlichen Ästen geflochtener Zaun umringte das Ganze und schützte somit Mensch und Vieh.
Viele lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen. Tagsüber weideten sie das Vieh in kleinen Herden, die man wegen der Hitze oft unter den Akazienbäumen antraf und die oft von Knaben beaufsichtigt wurden. Es kam öfters vor, dass das Vieh von wilden Tieren angegriffen wurde. Der Boden war wegen den früheren Vulkanen an relativ vielen Orten sehr fruchtbar und darum war das Gemüse dank den vielen Mineralien besonders schmackhaft. An einigen Orten floss sauberes, warmes Wasser aus Quellen. Es bildeten sich kleine, dampfende Bäche und man konnte das Wasser daraus trinken.
Am meisten genossen wir den Park rund um das Hotel herum mit den wunderschönen Blumen, sowie den Bäumen der Orangen, Mandarinen, Bananen, Zitronen und Granatäpfel. Wenn wir das alles so betrachteten fragten wir uns, wie schön es im Paradies gewesen sein musste. Auf der Vorderseite vom Hotel, dort wo der Eingang war, hatte es der Wand entlang große Sträucher von Bougainvilleas in Tiefrot, Blau, Gelb und Weiß. Der Sonnenaufgang oder -untergang über der Steppe war ein fantastischer Augenblick. Am Horizont stieg die Sonne wie eine große goldene Kugel auf und alles Leben erwachte. Das erlebt man nur in Afrika.
Eines Nachmittags hatte Fritz die großartige Idee, beim Koka-Damm, der unterhalb des Hotels lag, fischen zu gehen. Neben dem eingezäumten Garten führte eine steile Treppe hinunter. Dann kam eine lange, am Felsen festgemachte Eisenleiter, die zu einer Plattform führte, welche sich vier Meter über dem Wasser befand. Ganz in der Nähe war der Damm, der militärisch bewacht wurde und nicht weit davon lag das ebenfalls bewachte Elektrizitätswerk. Ich fühlte mich seltsam beunruhigt über diesem Vorschlag, aber Fritz gab seine Idee trotz meinem Flehen und Betteln nicht auf. Schließlich versprach er, einen Äthiopier mitzunehmen und mit einer schlechten Vorahnung sah ich die beiden mit ihren Fischruten verschwinden. Nicht lange danach kamen sie mit gesenkten Köpfen und ohne etwas gefangen zu haben, ins Hotel zurück. Fritz war sehr aufgeregt und erzählte mir Folgendes: Sie standen draußen auf dem Steg und fischten, als sie plötzlich seltsame Geräusche hinter sich hörten. Zu ihrem Entsetzen sahen sie eine Gruppe von Pavian-Affen oben an der Leiter stehen, die versuchten, nach unten zu kommen. Wegen den vielen Krokodilen war es unmöglich, ins Wasser zu springen. Der Äthiopier wies Fritz an, stehen zu bleiben und sich nicht zu bewegen. Er selbst ging ganz langsam in Richtung Treppe, während er sich wie ein Affe verhielt. Mit vielen Gesten und Affengeschrei gab er den Affen zu verstehen, dass das ihr Territorium sei. Die Paviane schauten dem komischen Affen da unten zu und – vielleicht weil er etwas größer war als sie – verschwand einer nach dem anderen.
Im Galila Palast gab es weder Radio noch Fernsehen oder Zeitungen und daher konnte man sich gut entspannen und die herrliche Natur genießen. Die vielen Geräusche von den wilden Tieren, Vögeln und Grillen mischten sich wie eine Symphonie zu einer seltsamen Art von Musik und das Abendrot und der Sternenhimmel waren eine Pracht und bezeugten, wie schön Gott die Welt geschaffen hatte.
Die Hunde und Wächter hatten eine Menge zu tun mit den wilden Tieren, die nachts versuchten, in den Garten hinein zu kommen. Galila Palace war nach der Besetzung durch die Italiener im zweiten Weltkrieg ein Geschenk von Mussolini an den Kaiser. Es war aus weißem und schwarzem Marmor gebaut und sollte die Sommerresidenz des Kaisers sein. Er übergab es aber der Stiftung.
Auf Gut und Böse, so lange wir leben
Wir hatten einander fünf Jahre gekannt, bevor wir heirateten, aber es war erst nachdem wir zusammen lebten, als wir uns wirklich kennen lernten. Vorher hatten wir viel Aufmerksamkeit füreinander und passten auf, ja die Gefühle des andern nicht zu verletzen. Das kann sich ändern, wenn man immer beieinander ist. Es ist gut, eine Argumentation gehabt zu haben und einander widersprochen zu haben – und das wenn möglich vor der Heirat.
Eines Tages sagte ich zu Fritz: „Ich reise zurück nach Dänemark.“ „Geh nur“, erwiderte er und verschwand aus der Tür, ohne zu sagen, wohin er ging. Ich überlegte, was ich machen sollte. Meine Eltern würden sehr wahrscheinlich nicht besondert glücklich sein über dieser Entscheidung. Ich müsste zuerst die Flugbillete kaufen und wenn ich dann in Dänemark ankäme, würde ich sicher die ganze Sache bereuen. Ich wollte aber nicht ganz aufgeben, denn Fritz sollte fühlen, dass es mir ernst war. Ich zog die Vorhänge an allen Fenstern, verschloss die Tür im Wissen, dass er keinen Schlüssel bei sich hatte und legte mich dann auf das Bett. Fritz traf unseren Freund Richard, der Küchenchef im Aethiopia Hotel war, auf halbem Weg in die Stadt. Er erzählte ihm, ich hätte gesagt, dass ich zurück nach Dänemark wollte. Die beiden kehrten um und kamen zurück zu unserem Bungalow. Dort fanden sie alles verschlossen und die Vorhänge zugezogen. Fritz rief: „Bist du da, Inge?“ Ich antwortete nicht. Fritz ließ einen Äthiopier mit dem Schlüsselbund kommen. Als ich dann die Geräusche von verschiedenen Schlüsseln hörte und sie den Richtigen fanden, öffnete ich die Tür zur Stube und rief überrascht: „Was ist denn hier los?“ Der Äthiopier starrte mich mit dem Schlüssel in der Hand einen Augenblick an. Ohne ein Wort zu sagen, bog er links ab und verschwand. Fritz erklärte, dass er auf der Strasse Richard getroffen hatte und dass sie bei uns Karten spielen wollten. Den Rest des Nachmittags spielten wir Karten und verloren kein Wort über den Streit.
Es gab auch viele schöne Zeiten in unserem gemeinsamen Leben. Jeden Samstagabend gab es Musik und Tanz im Hotel. In der Regel gab es immer jemanden unter den Gästen, den wir kannten. Ich verbrachte zwei Stunden, um mich schön zu machen und schaute gleichzeitig Fernsehen. Um 10 Uhr, wenn die Arbeit in der Küche nachließ, kam Fritz nach Hause, ging schnell unter die Dusche, zog sich um und dann gingen wir ins Imperial Restaurant zum Essen und Tanzen.
Es kam auch vor, dass er an einem Abend unter der Woche, wenn nicht viel Arbeit war, anrief und fragte, ob ich Lust hätte, ins Kino zu gehen. Mit einem leichten Sommermantel, denn am Abend war es angenehm kühl, fuhren wir dann in eines der wenigen Kinos, die sich damals in Addis Abeba befanden.
Wenn Fritz seinen freien Tag hatte, gingen wir oft in unser Lieblings-Restaurant. Es war nicht so teuer, aber sehr gut geführt von einem Libanesen. Er war zuvor Lehrer gewesen und sprach sieben Sprachen. Er nahm alle Bestellungen persönlich auf, wusste genau, was er heute verkaufen wollte und er tat das mit so einer Überzeugung, dass man ganz begeistert war. Die Gerichte waren eine Mischung von Libanesisch, Arabisch und Italienisch. Immer wieder waren wir überrascht, wie er es verstand, die Menüs zusammenzustellen und gleichzeitig die Küche zu koordinieren. Das Restaurant war sehr bekannt und es kam vor, dass man bis zu einer Stunde warten musste, bis man an den Tisch gerufen wurde. Dafür gab es Aperitife und viele Sorten von für uns damals fremdartigen Nüssen. Man konnte es sich während dem Warten im Empfangsraum auf großen Kissen am Boden gemütlich machen.
Eine ungewöhnliche Familie
Manchmal besuchten wir an einem Sonntagnachmittag die Familie Röschli, wenn wir nicht im Galila Palace oder auf einem Ausflug in der Region waren. David und Marlies kamen aus der Schweiz und hatten neben ihren vier Kindern sechs äthiopische Kinder angenommen. Wo es Raum und Liebe im Herzen hat, da hat es auch Platz im Haus. Ja, Marlies und Davids Haus war am Sonntagnachmittag oft ein Treffpunkt von vielen Gästen. Sie hatten ein Haus gemietet, das ungefähr 20 km von der Hauptstadt entfernt war. David unterrichtete an der Universität und lehrte die Studenten Feinmechanik. Marlies betreute die Hühnerfarm und kümmerte sich um die Großfamilie. Die Eltern der sechs Kinder wohnten früher nebenan in einer Hütte. Der Vater arbeitete auf der Farm, aber nach kurzer Zeit starb er. Die Mutter und ihre älteste Tochter Zehai bekamen ebenfalls Arbeit auf der Farm. Nach einem Jahr, an einem äthiopischen Festtag, starb auch die Mutter. Die sechs Kinder waren von nun an auf sich selbst gestellt. Das Jüngste war kaum zwei Jahre alt. Die Kinder von David und Marlies fragten, ob die äthiopischen Kinder bei ihnen wohnen dürften. Die Eltern waren einverstanden unter der Bedingung, dass sie alles teilen würden, auch die Schokolade. So entstand die Großfamilie. Zehai, die Älteste, half tatkräftig mit bei allen anfallenden Arbeiten im Haus.
Rund drei Jahre, nachdem sie die Kinder aufgenommen hatten, erwarb David eine Brutmaschine aus der Schweiz und begann, Küken aus Israel zu importieren. Nach ein paar Jahren stand ein Hühnerhaus neben dem andern. Es war ein großer Erfolg und sie hatten damals die besten Hühner weit und breit. Marlies und David verkaufen die Hühner an die meisten Hotels und Supermärkte. Im Gegensatz zu den äthiopischen Hühnern waren ihre zart und schmackhaft. Röschlis wurden bekannt in der Stadt und selbst die Kaiserfamilie hörte von ihnen. Die Tochter des Kaisers kam persönlich auf Besuch, begutachtete die Farm und kaufte Eier. Die Verbindung zur Kaiserfamilie kam ihnen später zugute, als sie vor der Revolution alle sechs Kinder adoptierten und mit in die Schweiz nahmen.
Eine Begebenheit in der Küche mit Hailu
Eines Abends, nachdem wir zu Bett gegangen waren, klopfte jemand heftig an die Tür. Draußen stand ein Koch. Er war ganz aufgeregt. „Fritz soll so schnell wie möglich in die Küche kommen!“, sagte er zwischen kurzen Atemzügen. „Es ist etwas passiert!“ Hailu hatte von einem Hilfskoch in der kalten Küche ein Glas frischen Orangensaft nehmen wollen. Fritz hatte aber zuvor wegen Missbrauch den strikten Befehl gegeben, keinen Orangensaft mehr ans Personal abzugeben. Hailu ignorierte das Verbot und wollte sich selber bedienen. Der Hilfskoch war ein großer, starker Mann und Hailu war klein und mager. Hailu wollte nicht nachgeben und so packte ihn der Hilfskoch mit beiden Armen und hob den zappelnden Mann in die Luft. Um sich zu wehren, biss Hailu mit voller Kraft in dessen Ohr. Der Hilfskoch schrie wie wild, während ihm das Blut am Hals hinunter lief.
So kam es, dass sie in ihrer Verzweiflung Fritz holten. Er hörte sich alles an und schlug vor, das Stück Ohr zu suchen, um mit ihm ins Spital zu gehen und es wieder annähen zu lassen. Die Suche nach dem Ohrläppchen war erfolglos. Sie kamen zum Schluss, dass Hailu in seiner Verzweiflung das Stück Ohr wohl hinunter geschluckt hatte. Im Spital wurde der Mann operiert und ein paar Tage später war er mit einem dicken Verband um den Kopf herum wieder an seinem Arbeitsplatz.
Am folgenden Tag hatten die Ältesten im Hotel eine Versammlung. Es waren die Schmagele (die alten Weisen), die eine Versammlung abhielten, um zu entscheiden, was man mit Hailu tun sollte. Man wollte nicht zur Polizei gehen, weil die Strafen sehr streng waren und die Gefängnisse Todeszellen glichen. Es wurde entschieden, ihm die Hälfte des Gehalts als Strafe für sechs Monate abzuziehen. Glücklicherweise war Hailu nicht verheiratet. Der Beschädigte sah schon etwas komisch aus ohne einen Drittel des Ohrs. Fritz konnte es nicht lassen, Hailu zu fragen, wie Menschenfleisch schmeckt. Ganz beschämt schaute Hailu jedes Mal, wenn er gefragt wurde, weg. Da es immer wieder finanzielle Engpässe bei den Köchen gab, die damals zwischen 100.- und 200.- Franken pro Monat verdienten, führte Fritz mit Einverständnis der Brigade eine Kasse ein. Jeder sollte einen Dollar pro Monat einbezahlen und sollte jemand in Schwierigkeiten kommen wegen Krankheit, Todesfall oder was auch immer, konnte ihm aus der Kasse geholfen werden. Nach vier Monaten beschlossen die Schmagele, Hailu für die verbleibenden zwei Monate auszuhelfen.
Ja, Hailu war ein spezieller Fall und seine Geschichte hatte so begonnen: An einem Nachmittag ging Fritz die Strasse hinunter, die zum Hotel führte. Dort war ein Wachtposten, der die Leute kontrollierte und nur Gäste und Personal durchließ. Vor dem Wachposten war eine kleine Brücke und dort saß ein junger Bettler mit zerrissenen, schmutzigen Kleidern. Er bettelte auch bei Fritz, doch dieser antwortete ihm: “Du bist ein junger Mann, geh und such dir einen Job, so dass du nicht betteln musst“. Der magere, kleine Bettler antwortete: „Ich finde keine Arbeit, niemand will mich anstellen.“ Fritz sah ihn prüfend an und sah, dass er wirklich traurig war. Fritz hatte Mitleid mit ihm und sagte: „Morgen um die gleiche Zeit kommt du wieder an diesen Ort, gewaschen und mit anständigen Kleidern und ich schaue, dass du eine Arbeit bekommst.“ Am nächsten Tag um die vereinbarte Zeit war der Bettler gewaschen mit sauberem Hemd und Hosen bekleidet vor der Wache und wartete. Woher er die Kleider hatte und wie er das gemacht hat, wissen wir nicht und haben ihn auch nie danach gefragt. Fritz nahm ihn zum Personalchef und versuchte, ihn anzustellen. Er wurde nach einigen Fragen als Casserollier eingestellt. Als es um die Personalien ging, hatte Hailu keine Papiere zum Vorweisen. Er war auf dem Land geboren und bereits als kleines Kind verlor er Vater und Mutter. So musste er sich schon als kleiner Junge alleine durchschlagen. Später kam er in die Stadt, lebte vom Abfall und schlief unter Brücken. Der Personalchef war am Anfang nicht richtig einverstanden, ihn anzustellen. Nach langem Hin und Her meinte er, dass er einen Bürgen haben müsse, doch das hatte er auch nicht. Fritz schlug vor, ihn temporär für zwei Monate einzustellen, dann könne man weiter sehen. Hailu war überglücklich und arbeitete hart. Alle in der Küche mochten ihn und nach zwei Monaten wurde er ohne Bürge fest eingestellt. Der neu angekommene Schweizer Direktor bekam von der Geschichte zu hören und war einverstanden.
Ein Kriegstanz in der Küche.
Eines Tages, als Fritz in seinem Büro arbeitete, schaute er wie öfters durch das Fenster, wodurch er die ganze Küche beobachten konnte. Plötzlich fing ein Koch mit Hühnerfedern in seinen krausen Haaren in der Küche herum zu tanzen wie ein Indianer. Als er nicht aufhören wollte, ging Fritz in die Küche und mahnte ihn, damit zu stoppen, aber der machte nur weiter. Weil Fritz die Situation beenden wollte, gab er ihm mit der Faust einen Stoss auf seine Brust. Der Koch fiel um und rang nach Luft. Es wurde beschlossen, ihn zur Sicherheit ins Spital zu bringen. Zusammen mit dem Personalchef fuhren sie mit dem Taxi los – aber nicht direkt ins Spital, sondern zuerst zur Polizei, um eine Anzeige zu machen. Nach zwei Tagen bekam Fritz eine Einladung. Alle im Hotel wussten es, selbst die Taxifahrer vor dem Hotel. Der Boss der Taxifahrer bot Fritz seine Hilfe an, denn er kannte die Leute auf dem Polizeiposten.
Das Verhör fing an und beide mussten erzählen, was passiert war. Fritz gab seine Aussage in Englisch und alles andere wurde auf Amharisch diskutiert. Immer wieder sprachen sie mit dem Ankläger und auf einmal sprach der Oberste in Englisch und sagte: „Gut, wir haben mit Ihrem Angestellten gesprochen und es tut ihm auch leid, dass es so weit gekommen ist. Er zieht seine Anklage wieder zurück.“ Nach äthiopischem Brauch gaben sich die beiden die Hände und alles war wieder in Ordnung. Fritz versprach, den Koch weiter im Hotel arbeiten zu lassen.
Ostern war vor der Tür, der Sous-Chef Abebe schlug Fritz vor, dem Koch ein lebendiges Lamm zu schenken und es zu ihm nach Hause bringen zu lassen. Diese Aufgabe wurde dem Mann, der den Koch zuerst auf den Polizeiposten statt ins Spital brachte, übertragen. Als er dann Geld für ein Taxi verlangte, weil der Koch einige Kilometer weit entfernt am Stadtrand wohnte, wies ihn Abebe zurecht und meinte, er sollte es zu Fuß bringen. So blieb ihm nichts anderes übrig, als das Lamm durch die Stadt zu ziehen. Ende gut alles gut.
Eine Geburt mit Folgen
Kurz nach unserer Hochzeit wurde ich schwanger. Nach ein paar Monaten fingen wir an, unsere Ferien zu planen, denn ich wollte unser Kind zu Hause in Dänemark gebären. Fritz bekam zwei Monate Ferien. Die erste Hälfte verbrachten wir in der Schweiz und die andere Hälfte in Dänemark, da wir unsere Familien auf beiden Seiten besser kennen lernen wollten.
Es war am 1. August l968, als wir uns im Kreissaal vom Krankenhaus in Svenborg befanden. Soeben war ich aufgewacht von einer Narkose und hörte eine Stimme sagen: “Er hat nicht richtig durchgeatmet.“ In diesem Moment wusste ich, dass das, was ich in meinem Leben am meisten befürchtet hatte, eingetroffen war. Ich hatte es vorher gespürt und ich wusste nicht, wem ich es erzählen sollte. Drei Wochen zuvor hatte ich einen Traum gehabt, der mich seither immer verfolgte. Im Traum wurde unser Kind geboren. Ich sah, wie es nicht auf dem natürlichen Weg, sondern einfach aus dem Bauch kam. Ich entdeckte ein schwarzes Loch in seinem Kopf, deswegen weigerte ich mich, das Kind anzunehmen. Dann wurde das Baby aufgenommen. Zwei Hände erschienen von oben und gaben mir das Kind gekleidet zurück. Ich untersuchte vorsichtig den Kopf und sagte: „ Nun ist alles gut.“
Hätte ich den warnenden Traum verstanden, der mir von oben gegeben wurde, hätte ich mich sofort zu Gott gewendet und Ihn um Hilfe gebeten. Er kann Böses zum Guten wenden. Wir Menschen müssen Ihm nur vertrauen. In dieser dunklen Stunde meines Lebens war das geschehen, was ich befürchtet hatte. Wir hatten ein behindertes Kind bekommen.
Der Arzt, der bei der Geburt anwesend war, machte eine Bemerkung: Das Beste wäre, nicht zu viele Fragen zu stellen. Seine Worte ließen mich erschaudern. Es sei eine schwere und lange Geburt gewesen. Die Hebamme erklärte, dass das Baby die Nabelschnur zweimal um den Hals gehabt hatte, dann sei sie nur noch sehr kurz gewesen und es habe Wasser in den Lungen gehabt. Zur Sicherheit würde es ein paar Tage in einem Inkubator liegen. Vor der Geburt, als ich im Kreissaal lag, schaute ich auf die Uhr. Dann bekam ich eine Gasmaske und wusste nicht mehr, was in der halben Stunde passiert war. Nach der Geburt auf dem Weg ins Zimmer konnte ich einen kurzen Blick auf unseren Sohn werfen. Wir würden ihn Fritzli nennen, Kurzform von Friedrich. Zum ersten Mal sah ich tief in seine dunkelbraunen Augen, die nie die Farbe wechseln würden. Wir gehörten zusammen was auch immer kommen mochte. Meine Mutterliebe zu ihm überwältigte mich.
Ich war damals 26 Jahre alt und ich liebte mein Kind schon, bevor es geboren wurde. Ja, ich konnte es kaum erwarten, es zu sehen und in meine Arme zu nehmen. Ich bewunderte die Kinderkleider, die ich gekauft, gewaschen und versorgt hatte in einer Kommode im Haus meiner Eltern. Ich schaute mir Zeitschriften mit Babys an und fragte mich, wie unser Kind aussehen würde. In der Schweiz feierten sie heute den Nationaltag. Was tat Fritz wohl in diesem Augenblick? Er fehlte mir sehr. Er war ein paar Tage vorher zurück in die Schweiz geflogen, um von seinen Eltern Abschied zu nehmen, weil er zurück nach Äthiopien fliegen musste, um seine Arbeit wieder aufzunehmen.
Das erste was ich dachte, als ich am dritten Tag erwachte, war unseren Sohn endlich in die Arme nehmen zu dürfen und ihn zu liebkosen. Dies hatten sie mir am Vortag versprochen. Ich konnte es kaum erwarten. Dann kam die Krankenschwester ins Zimmer und verkündete, dass bald der Arztbesuch käme. Schließlich kam der Chefarzt mit seinem Gefolge dicht hinter ihm anmarschiert. Ohne seine kostbare Zeit zu verlieren, erklärte er ganz offen, dass es dem Fritzli sehr schlecht gehe und er epileptische Anfälle hätte. Das Beste was ich ihm wünschen könne sei, dass er nicht überlebe würde. Er hätte bei der Geburt eine Hirnverletzung erlitten und sie wüssten nicht, welche Folgen das zukünftig haben würde. Danach marschierte er zum nächsten Bett.
Schließlich durfte ich Fritzli besuchen. Es schüttelte ihn am ganzen Körper. Ich war tief erschüttert, als ich ihn sah. Mit gebrochenem Herzen rief ich Fritz in die Schweiz an und erzählte ihm, was passiert sei. Er versicherte mir, dass er sofort kommen würde.
Es war eine junge Ärztin, die erstmals vernünftig mit mir redete. Sie erklärte mir, dass die Ursache der Anfälle auf zwei beschädigte Stellen auf der linken Seite des Gehirns zurückzuführen sei und fügte hinzu, dass man niemandem etwas vorwerfen solle. Es waren die ersten mitfühlenden Worte, die ich im Krankenhaus gehört hatte. Es wurde beschlossen, Fritzli für weitere Untersuchungen ins Universitätsspital nach Odense zu bringen. Im langen, roten Morgenrock, den mir Fritz auf Weihnachten in England geschenkt hatte und den weißen Socken vom Krankenhaus fuhr ich mit dem Krankenwagen mit. Dann gab ich den Tränen freien Lauf. Was würde mit Fritzli geschehen? Ich wartete, bis sie ihn untersucht hatten. Mir wurde vorgeschlagen, ihn taufen zu lassen. Ein Pfarrer wurde schnell herbeigerufen. Im Inkubator wurde er Friedrich Ulrich Erhard getauft. Friedrich, weil er der vierte Friederich in Fritz seiner Familie war. Ulrich weil ich glaubte, dass er einen starken Namen brauchte, denn das erinnerte mich an einen Wolf. Die Taufe dauerte kaum eine Minute, kein Segen wurde über ihm ausgesprochen.
Mit dem Krankenwagen fuhr ich zurück nach Svenborg ins Spital. Dort packte ich meine Sachen und am Nachmittag kamen meine Eltern und holten mich ab. Fünf Tage lang lag Fritzli im Koma und während dieser Tage reagierte er nicht, wenn sie ihn mit einer Nadel stachen. Zu diesem Zeitpunkt war es mir unmöglich, ihn aufzugeben. In meiner Verzweiflung betete ich: „Was immer geschehen wird, ich nehme an, was Du mir gibst, wenn er nur leben kann.“ Mit düsteren Erwartungen begab ich mich ins Spital in Odense, wurde aber bald angenehm überrascht, weil Fritzli aus dem Koma erwacht war. Er sah aus, als ob er weit weg gewesen wäre. Seine Haut schälte sich von Kopf bis Fuß. In meinem Herzen dankte ich Gott, Er hatte trotz allem mein Gebet erhört. Durfte ich auf ein Wunder hoffen oder gab es irgendwelche Bedingungen, damit ich ihn behalten durfte? Diese Frage war noch nicht beantwortet. In den nächsten paar Wochen besuchte ich Fritzli jeden Tag im Spital. Ich durfte wechselweise bei meinen Cousinen und meinem Onkel wohnen. Jeder war sehr verständnisvoll und hilfsbereit. Schließlich kam der Tag, als ich Fritzli nach Hause nehmen durfte. Glücklich kleidete ich ihn mit seinen eigenen Kleidern. In einer Woche würden wir in die Schweiz fliegen und ein paar Tage später nach Äthiopien.
Zurück im Alltag von Addis Abeba
Nun war ich das zweite Mal auf dem Weg nach Äthiopien und sehr neugierig, was das nächste Kapitel in unserem Leben bringen würde. Neben mir saß ein älterer Herr, er betrachtete den süß aussehenden Fritzli im Korb für einige Zeit und sagte dann: “Kinder sollte man genießen, solange sie klein sind.“ Ich brachte es nicht übers Herz ihm zu sagen, was passiert war, weil er den Anblick genoss, als würde es sein eigenes Enkelkind sein.
Wir kamen beide gut in Addis Abeba an. Fritz stand mit erwartungsvollem Blick in der Ankunftshalle. Auf dem Weg ins Ghion Hotel machte er folgende Bemerkung: „Ich glaubte, du wärest wieder so dünn wie vorher.“ Ich hatte ein dickes Kleid an, das ich in Odense gekauft hatte und für geeignet hielt. Ich tröstete ihn mit der Aussage, dass es normal sei, nach der Geburt etwas rundlicher zu werden. Wir zogen in einen größeren Bungalow um, mit Wohn- und Schlafzimmer, denn jetzt waren wir zu dritt. Eine Küche brauchten wir nicht. Wir konnten das Essen von der Küche bestellen oder im Restaurant essen gehen.
In den ersten drei Monaten schien alles normal zu sein mit Fritzli. Er schlief und trank seine Milch regelmäßig. Es dauerte nicht lange, bis er in der Nacht durchschlief. Wir hofften, dass alles gut gehen würde. Als er drei Monate alt war, begann er, kleine epileptische Anfälle zu bekommen. Der Arzt verordnete ein Medikament, das gegen Anfälle helfen sollte, aber alles begann sehr schwierig zu werden. Er bekam Probleme mit dem Schlucken und schlief nachts unruhig. In den nächsten drei Monaten verbrachte ich Stunden, ihn mit einem Teelöffel die Milch zu geben. Ich hatte mir zum Ziel gesetzt, ihn so gut wie möglich selber zu ernähren, um nicht mit einer Sonde beginnen zu müssen. Ich sah sein erstes Lächeln, als er drei Monate alt war, aber leider entwickelte er sich nicht weiter. Das Personal vom Hotel bemerkte ebenfalls, dass etwas nicht stimmte mit ihm. Fritz meinte, wir sollten ihn ein zweites Mal taufen lassen und zwar in der Kirche. Wir nahmen Kontakt auf mit dem deutschen Pfarrer, der uns getraut hatte und erklärten ihm die Situation. Gemeinsam legten wir den ersten Sonntag im Advent fest für die Taufe. Am Tag, an dem er getauft wurde, konnte er plötzlich die Milch normal aus der Flasche trinken und er schien auch viel ruhiger zu sein und schlief gut. Dieser Zustand dauerte drei Tage. Ich nahm es als ein Zeichen an, dass Gott ihn gesehen hatte. Er würde ihm in seinem Leben beistehen.
Nächtlich Ausflüge
Die Äthiopier hatten viele gute Vorschläge, was wir tun könnten, um den Zustand von Fritzli zu verbessern. Man riet uns, eine christliche orthodoxe Kirche zu besuchen, die mit dem Auto eine Stunde vom Hotel weg war. Auf halber Fahrt durch die Hauptstadt zur Kirche hielten wir in einem kleinen Dorf an. Der Chauffeur und seine Familie, bestehend aus seiner Frau und fünf Kindern, wartete dort auf uns. Die koptischen Priester beteten eine Stunde in Amharisch für Fritzli. Natürlich verstanden wir nichts von dem, was gesagt wurde. Wir standen nur daneben und hofften, es würde Fritzli helfen. Fritz gab dem Priester einen schönen Batzen. In der nächsten Nacht wiederholten wir das gesamte Ritual. Der Priester riet uns, Fritzli im Wasser dort zu baden, denn es hätte eine heilende Wirkung. Widerwillig gab ich nach, warnte aber Fritz, dass, sollte er krank werden von dem kalten Wasser und den nächtlichen Ausflügen, wir damit aufhören müssten. Am vierten Tag bekam er trotz den vielen Gebeten hohes Fieber. Eine Woche lang war er sehr krank. Fritz versprach hoch und heilig, in Zukunft nicht mehr solche Vorschläge zu machen. Von den Mitarbeitern vernahmen wir, dass es ein großer Fehler sei, die nächtlichen Ausflüge zu stoppen, weil sich der Teufel durch das Fieber manifestierte. Hätten wir weiter gemacht, dann wäre das Böse vertrieben worden und Fritzli wäre gesund. Auf unsere Frage, ob es Gottes Wille gewesen sei, ihn fast ums Leben zu bringen, um ihn zu heilen, bekamen wir keine Antwort.
Es gab viel Arbeit mit Fritzli, weil er immer versuchte, selbst etwas zu tun, was auch normal ist für ein gesundes Kind. Er stieß Schreie der Verärgerung aus, weil er nicht machen konnte, was er wollte. Er konnte seinen Kopf nur für ein paar Sekunden lang halten, dann nickte er wieder ein, da er keine Kontrolle über seine Bewegungen hatte. Im schwedischen Krankenhaus zeigte mir ein Physiotherapeut einige Übungen, die ich getreulich mit ihm jeden Morgen machte, nachdem ich ihn gebadet hatte. Er schien dabei entspannter zu sein, beispielsweise bei unseren täglichen Spaziergängen im Park vom Hotel. In solchen Momenten konnte er sich selbst vergessen. Er war ein hübscher Junge und lachte gerne, wenn wir mit ihm plauderten. Seine Mahlzeiten waren für ihn sowie auch für mich fortwährend sehr anstrengend. Es war sehr schwierig für ihn, Nahrung zu sich zu nehmen und wir mussten sehr vorsichtig sein, dass er sich dabei nicht verschluckte. Trotzdem passierte es einmal. Sein Gesicht wurde dunkel und als er endlich zu sich kam, war ich nass vom Schweiß und zitterte am ganzen Körper. Ich übergab ihn den Mädchen und ging in die Hotelküche ins Büro von Fritz und trank eine Tasse Kaffee. Es dauerte ab dem sechsten Monat jedes Mal eine gute Stunde, um ihm das Essen und Trinken einzugeben. Es ging am besten, wenn er abgelenkt wurde und deshalb spielte ein Mädchen mit einem Spielzeug vor seinen Augen, während ich konzentriert versuchte, sein Essen nach unten zu kriegen.
Im ersten Jahr war er öfters krank und manchmal hatte ich das Gefühl, dass er, wenn ich nicht gut aufpasste, nicht überleben würde. Ein- bis zweimal im Monat musste ich zum Kinderarzt. Gelegentlich fragte mich der Arzt: “Was sollen wir dieses Mal mit ihm tun?“ Ich sorgte dafür, dass er regelmäßig Gammaglobulin erhielt. Sein Leben hing an einem Faden, da gab es keinen Zweifel. Er schlief in seinem eigenen Zimmer, aber ich konnte nie sicher sein, dass er noch am Leben war, wenn ich die Tür öffnete. Plötzlich, ohne Vorwarnung, fing er an, mit dem Atmen zu kämpfen und es gab nichts, was wir tun konnten, bis es vorüber war. Jedes Mal, wenn ich ihn süß schlafend in seinem Bettchen sah, dankte ich Gott von ganzem Herzen.
Trotz allen Schwierigkeiten waren wir sehr glücklich mit ihm, wir waren eine Familie. Manchmal, wenn Fritz ihn auf seinen Schoss nahm, fingen wir an zu lachen. Fritzli liebte es, zu lachen und oft lachten wir alle drei von ganzem Herzen und das tat gut bis in das Innerste der Seele. Es war, als ob alle Schwierigkeiten weggeblasen wären.
Zum Glück war es kein Problem, eine Haushilfe zu bekommen. Tagsüber hatte ich immer jemanden, der mir helfen konnte. Ich stellte zwei Mädchen an, eines kam für ein paar Stunden am Morgen und das andere war ein paar Stunden am Nachmittag da. Ich wollte nicht, dass Fritzli jemandem zur Last werden würde. Die Hilfe kostete ja so wenig und so hatte ich immer ein Kindermädchen für ihn. Ich gab ihm selber seine Mahlzeiten, aber im Notfall konnten die Mädchen übernehmen.
Das Leben in Äthiopien
Kaiser Haile Selassie hatte dieselben Schwächen wie König Salomon im Alten Testament. Er war Freund mit allen, die dem Lande etwas anboten. Er erhielt Unterstützung aus dem Westen und dem Osten. Viele äthiopischen Studenten konnten in Moskau studieren. Es war daher kein Wunder, dass viele von ihnen mit ganz anderen Ideologien zurückkehrten und dem Kaiser und der Regierung gegenüber feindlich eingestellt waren. Dies führte oft zu Studentenunruhen auf dem Campus sowie in der Stadt. Es gab Tage, wo es am besten war, zu Hause zu bleiben. In diesen unruhigen Tagen wurden der Palast und das Hotel vom Militär schwer bewacht.
Eines Nachmittag, als wir uns im Schlafzimmer aufhielten, hörten wir einen ohrenbetäubenden Knall. Es war ein Schuss. Dieser unerwartete Vorfall gab uns ein Gefühl der Unsicherheit. Es musste so gewesen sein, dass Aufständische einfach auf den Palast schießen wollten und stattdessen das Hotel erwischten. Eines Tages erzählte mir Fritz, was er in der Küche gehört hatte. Der Kaiser fuhr nur mit seinem Chauffeur und ohne seine Ankunft anzumelden zur Universität. Dort ließ er alle Studenten auf dem Campus zusammen rufen und fragte sie, was sie von ihm wollten, er wäre bereit mit ihnen zu diskutieren. Niemand wagte, den Mund aufzutun. Der Respekt vor dem Kaiser stieg deutlich nach diesem Vorfall.
Manchmal, an ruhigen Tagen, machte ich einen Spaziergang in die Stadt. Ich liebte es, alleine auf dem Merkato einkaufen zu gehen. Dieser Markt war anscheinend einer der größten in Afrika. Man konnte sich gut verlaufen, weil es wie ein Stadtteil für sich selbst war. Es gab dort eine Menge von interessanten Sachen zu kaufen und die Auswahl der Ware war unglaublich groß. Äthiopier woben ihre eigenen Kleider selber. Sie waren für Männer und Frauen aus weißer Baumwolle gewoben. Die Kleider der Frauen waren mit bunten Borden am Rand verziert und meistens trugen sie einen Schal dazu. Ich kaufte Stoffe und ließ sie bei einer guten Schneiderin, die auf dem Piazza wohnte, nähen. Wenn man durch die Strassen der Innenstadt ging um einzukaufen, musste man oft die Augen schließen, denn es gab viele Bettler. Verstümmelte Menschen oder Mütter mit abgemagerten Babys schauten einem aus traurigen Augen an und streckten die Hand hin, um ein paar Rappen zu bekommen.
In Afrika geht man durch Dick und Dünn miteinander durchs Leben. Eines Morgens, als ich gerade Fritzli aufnahm, stürmte Fritz in die Wohnung. Ohne ein Wort zu sagen, nahm er Fritzli auf den Arm und verschwand im Schlafzimmer. Dort weilte er für eine Stunde, dann stand er auf, kämmte seine Haare und ging wieder in die Küche zurück. Etwas war schief gegangen, denn sonst zeigte er viel Verständnis und Sympathie, aber heute war alles anders und Fritzli war sein einziger Trost. Später an diesem Tag erzählte er mir, was geschehen war. Ein Bäcker, der größte und stärkste Mann in der Küche, erhielt von Fritz eine Zurechtweisung. Der Mann verlor seine Nerven und hob Fritz in die Luft, schüttelte ihn und schrie immer wieder: „What do you want?“ Fritz fühlte sich offensichtlich sehr erniedrigt und musste sich zuerst beruhigen, bevor er seine Arbeit wieder fortsetzen konnte.
Eines Morgens hatte er mit den Leuten aus der Patisserie Schwierigkeiten, weil er Reklamationen erhielt. Es gab ein Wortgefecht. Auf einmal flog ein Messer durch die Luft – haarscharf am Kopf von Fritz vorbei. Das war zu viel. Alle waren aufgeregt und gespannt, was nun passieren würde. Der Personalchef meinte, es sei das Beste, diese Person zu entlassen, aber Fritz beschloss, den Vorfall zu ignorieren. Der Bäcker bekam nur eine starke Verwarnung. Eine Entlassung wäre etwas ganz Schlimmes für ihn gewesen, denn er hätte sehr wahrscheinlich große Schwierigkeiten gehabt, eine andere Stelle zu finden. Etwas später wurde uns bekannt, dass ihn kurz zuvor seine Frau mit ihren Kindern verlassen hatte. Von diesem Tag an gab es keine Probleme mehr mit der Brigade.
Eines Nachmittags kam Fritz mit einer Medizin-Box von der Klinik zurück. Somit konnte ich Erste Hilfe leisten, wenn die Klink geschlossen war. Manchmal waren die Leute wütend aufeinander und es kam zu Gefechten. Eines Abends berichtete Fritz, dass sie einen Koch in einen noch lauwarmen Ofen hineingeschoben hatten. Er kam gerade dazu und hörte nur noch einen hohen, angstvollen Schrei aus der Richtung des Ofens. Die Tür wurde schnell wieder geöffnet und der arme Koch kam unter dem Lachen der anderen Köche in Todesangst heraus gekrochen.
Das Hotel bestand aus drei Teilen. Einer davon war das alte Ghion Hotel mit dem neuen Flügel. Der andere Teil war das neue und luxuriöse Imperial Hotel. Der dritte Teil bestand aus Dukuls.
Ein äthiopisches Orchester unterhielt die Gäste jeden Abend im Imperial Hotel, außer am Samstag und Sonntag. Das äthiopische Orchester war besser als das italienische, das am Wochenende spielte. Wenn am Abend der Service begann, kamen die Kellner mit den Bestellungen zu Fritz, der am Pass stand und die Küche in Kontrolle hatte. Er nahm den Bon oder die Bestellung an und mit lauter Stimme gab er die Bestellung mit dem Namen des Chef de Parties oder Kochs durch. Der Betreffende musste dann die Bestellung wiederholen, damit Fritz sicher war, dass das Gericht verstanden und vorbereitet wurde. Wenn der Kellner ein Essen abholte, musste er nur die Tischnummer sagen. Fritz hatte an der Wand ein großes Brett mit allen Tischnummern darauf. Dort befestigte er die Bestellungen. So hatte er die Übersicht, was abgerufen werden musste. Er bestellte dann den ersten Kurs, Hauptkurs oder Dessert. Die Köche richteten das Essen an und brachten es an den Pass. Dort wurde es kontrolliert und garniert und dem Kellner übergeben. Es war gut, dass der Sous-Chef, ein Äthiopier, Italienisch und etwas Deutsch sprach. So konnte er sich mit Fritz gut verständigen. Mit der Zeit sprach Fritz die lokale Küchensprache ganz gut und jeder konzentrierte sich auf die Stimme von ihm. Besonderes, wenn sie viele Gäste hatten, war der Lärm in der Küche so groß, dass er fast schreien musste und wenn er am späten Abend nach Hause kam und nur noch flüstern konnte, dann wusste ich, dass er sich wieder einmal überarbeitet hatte.
Der Spion vom Kaiser, so nannten wir ihn, kam öfters auf Besuch in die Hotelküche. Er hatte früher einen hohen Rang im Militär gehabt. Es wurde berichtet, dass er einen schweren Unfall hatte und zurücktreten musste. Er war aber immer irgendwo dort anzutreffen, wo der Kaiser sich aufhielt. Fritz gab ihm eine gute Mahlzeit. Weiter fragte er um Essen für obdachlose Kinder, die er unter seinen Fittichen hatte. Die Chefs gaben ihm die übrig geblieben Esswaren gerne mit. Auch bekam er hie und da Geld für die Waisen. War er nicht zufrieden mit dem Betrag, weigerte er sich einfach, zu gehen. Hartnäckig wie er war, blieb er sitzen und gab Fritz zu verstehen, dass er genug Geld hätte, um ihm mehr zu geben.
Eines Tages besuchte er mich mit einigen stark riechenden Wurzeln eines Strauches in unserer Wohnung. Er hatte gehört, dass wir einen cerebral gelähmten Sohn hätten. Die Wurzeln sollten wir Nachts unter Fritzlis Kopfkissen legen. Langsam würde er dann wieder gesund werden, meinte er mit voller Überzeugung. Als er gegangen war, wickelte ich die Wurzeln in ein Taschentuch und versteckte sie in einem Schrank, weil sie so stark nach irgendetwas rochen, dass wir Kopfschmerzen bekamen. Fritz vereinbarte mit den Wächtern, dass, wenn der General (so nannten wir in heimlich) käme, sie ihn anrufen sollten. In diesem Fall würde Fritz mich dann benachrichtigen. Ich oder das Kindermädchen sollten dann schnell die Wurzeln aus dem Schrank nehmen und sie unter das Kopfkissen von Fritzli stecken. Tatsächlich stürmte er eines Morgens ohne anzuklopfen in unsere Wohnung hinein, ging direkt ins Zimmer an das Bett von Fritzli und hob das Kissen, wo die Wurzeln umhüllt mit dem Tuch lagen. Ohne nach links und rechts zu schauen oder ein Wort zu sagen, verließ er die Wohnung wieder. Zum Glück konnte ich die Wurzeln noch schnell vorher unters Kissen legen.
Die Regenzeit
Die Regenzeit war ein Erlebnis in Äthiopien. Es gibt die große und die kleine Regenzeit mit halbjährlichen Abständen. Wenn eine Regenzeit ausbleibt, kann es zu großen Dürren mit fatalen Folgen kommen. Die größte Katastrophe kam ein paar Jahre später, nachdem wir das Land bereits verlassen hatten.
Menschen und Tiere waren sehr auf eine gute Ernte angewiesen, denn es wurde so wenig wie möglich importiert. Sie lebten hauptsächlich von ihrem Teff, dem äthiopische Korn, sowie Mais, Gemüse und vielen lokalen Früchten. Auf den fruchtbaren Böden des Hochplateaus rund um Addis Abeba konnte man das Gras jeden Monat schneiden – es musste nur bewässert werden. Das Land war ebenfalls gesegnet mit Gold- und Silberminen sowie anderen Mineralien.
In Äthiopien ist der Himmel immer stahlblau, abgesehen von der Regenzeit. Am Morgen steht man auf, die Sonne scheint wie immer, aber plötzlich, ohne Vorwarnung, zeigen sich ein paar Wolken am Himmel und nach einer oder zwei Stunden schweben auf einmal schwere, dunkle Wolken heran und bedecken den ganzen Himmel. Wenn man das sieht, muss man so schnell wie möglich Schutz suchen, denn plötzlich beginnt es, wie aus Kübeln zu regnen und alles wird überschwemmt. Wenn man mit dem Auto in der Regenzeit unterwegs ist, kann es passieren, dass ein Platzregen kommt. Am besten hält man dann am Straßenrand an und wartet, bis es vorbei ist. Die Räder sind bald im Wasser versunken und man hört nur noch das laute Trommeln des sintflutartigen Regens. Das Ganze dauert nur eine halbe Stunde und so schnell wie es angefangen hat, hört es wieder auf.
Im Laufe der Zeit zieht der Regen nach Süden. Das merkt man daran, dass der Platzregen sich vom Morgen auf den Nachmittag verschiebt und eines Tages ist er dann gegangen.
Wenn die große Regenzeit im Oktober vorbei ist, folgt der Nationalfeiertag Marskaram. Auf den Feldern kann man, soweit das Auge reicht, ein Meer von gelben Blumen sehen, weil der Frühling eingezogen ist. Das erinnert einen an den Frühling in der Heimat und für einige Wochen liegt eine erwartungsvolle Stimmung in der Luft. Überall wird vorbereitet für die Festtage, jeder muss neue Kleider haben. Es wird geschlachtet und das Inshera Watt gekocht. Dann wird die alte Butter herausgegraben, die ein paar Jahre zuvor in Bananenblätter eingepackt -und im Sandboden vergraben wurde. Jedenfalls sagt man das so. Heutzutage ist die Butter nicht mehr so alt. Das Gericht Watt besteht aus Fleisch, Zwiebeln, Knoblauch und vielen Gewürzen und wird mit dieser Butter gekocht. Mit der Zeit bekommt man das Gericht sehr gerne und heute träumen wir nur noch davon. Dann dürfen die Inshera nicht fehlen. Die sehen aus wie runde, große Pfannkuchen. Sie bestehen aus dem einheimischen Teff – dem äthiopischen Korn – und werden auf einer eisernen, runden Platte gebacken. Sie sehen aus wie ein dünner, grauer Schaumgummi. Nach so einer reichhaltigen Mahlzeit hat man ein angenehmes Gefühl im Magen. Das erste Mal, als ich dieses scharfe Gericht probierte, verbrannte ich mir die Zunge. Nach und nach konnte ich mich an die Schärfe gewöhnen. Später tranken wir den herrlich riechenden einheimischen Kaffee, der auf offenem Feuer in einer Eisenpfanne geröstet – im Mörser gestampft und in einem Krug mit schmalem Hals auf dem offenen Feuer mit Gewürznelken gekocht wird. Es ist ein wunderbares Getränk und schmeckt gerade so gut wie ein türkischer Kaffee.
Maskeram, der Nationaltag, war für das ganze Volk ein wichtiger Festtag. Von überall her strömten die Leute in die Stadt. Auf dem großen Bundesplatz war ein riesiger Holzhaufen aufgetürmt. Die Regierung, Adelige und Diplomaten sowie die Obersten vom Militär nahmen auf der aufgestellten Bühne Platz. Eine riesige Menge von Leuten hatte sich unterdessen versammelt. Dann kam der Kaiser in seiner Staatskutsche herangefahren. Voraus ritten Soldaten in Gala Uniformen auf schönen, reinrassigen Pferden. Die Kutsche hielt vor der Tribüne an, der Kaiser stieg aus, ging strammen Schrittes hinauf und setzt sich auf seinen Thron, um eine Rede an das Volk zu halten. Nach der Nationalhymne, bei der alle standen, ging der Kaiser die Treppen wieder hinunter und zündete das Feuer an, danach fing die Parade an. Soldaten auf Pferden mit allen Arten von Waffengattungen – auch von früher her – parodierten vorbei. Nachdem die Parade vorbei war, kam die Kutsche mit Gefolge und holte den Kaiser ab, gefolgt von Adeligen, Diplomaten und Offizieren. Die Flammen des Festfeuers erloschen langsam und die große Menschenmenge ging nach Hause, um weiter zu feiern.
Malaria
Hie und da blieb ich ein paar Tage in Koka-Damm mit Fritzli. Normalerweise ging ich mit ihm zweimal am Tag in die Steppe spazieren. Der warme Wind wehte beruhigend und Fritzli genoss die Spaziergänge sehr. Weil alles so friedlich war, konnte er stundenlang in der Wüste schlafen. Es war, als ob Gott sich in der schönen Umgebung offenbarte und uns neue Kraft und Hoffnung für die Zukunft gab. Wenn Fritzli im Zimmer schlief, entspannte ich mich am Pool. Es war schön warm und man konnte in kurzer Zeit braun werden. Aber man konnte auch zu viel Sonne bekommen. Als ich den ersten Sonntag in Koka-Damm verbrachte, war es zugleich mein erster Sonntag in Äthiopien. Während Fritz in der Küche beschäftigt war, verbrachte ich die Zeit am Pool. Innerhalb kurzer Zeit wurde ich brauner und brauner. Im Spiegel im Zimmer bewunderte ich mich selbst. Ich war nicht weit davon, so braun wie eine Äthiopierin zu sein und ich war nicht einmal rot geworden! Doch das änderte sich in den nächsten Tagen. Ich schälte mich von den Haaren bis zu den Zehen.
Fritz und ich waren einige Male in der Stadt gewesen und jemand hatte mir Flöhe geschenkt, die sich in unserem Bett versteckten. Auch die Moskitos mochten mich. Ja, das Leben hier hatte zwei Seiten. Ich lernte, vorsichtig an der Sonne zu liegen, weil Fritz sich immer im Schatten platzierte. Wenn wir auf Touren waren, hatte er zum Schutz der Hitze immer einen Pullover an. Der andere Grund war, dass die Flöhe nicht so leicht den Weg fanden durch den Pullover. Ich fand heraus, dass es eine gute Idee war, die Kleider nach jedem Besuch in der Stadt über der Badewanne auszuschütteln.
Wie so viele Male zuvor saß ich am Pool und las oder strickte, während Fritzli schlief. Plötzlich stach mich ein Insekt ins Bein, aber dieses Mal war es anders. Es war sehr schmerzhaft und schwoll auf zu einer Beule. Ich dachte: „Hoffentlich ist es nicht Malaria!“, aber diesen Gedanken stieß ich schnell von mir weg. Nach ein paar Tagen begann ich, mich elend und krank zu fühlen. Der Arzt im schwedischen Krankenhaus gab mir Medikamente, aber die halfen nicht im Geringsten. Am nächsten Morgen ging es wieder gut, aber am Abend, bei Sonnenuntergang, fieberte ich wieder und das steigerte sich jeden Tag. Eines Abends war das Fieber so heftig, dass es mich im Bett stark schüttelte. Fritz sah mich auf eine seltsamen Art an und sagte: „Hör doch mit dem komischen Schütteln auf, sonst gehe ich heute Nacht an einen anderen Ort schlafen.“ Ich antwortete: „Wirst du – im Fall, dass ich sterben sollte -gut auf den Fritzli aufpassen?“ Fritz wurde trotz allem etwas unsicher und als er in die Küche kam, erzählte er Segai, dem äthiopischen Assistenten des Direktors, dass ich mit hohem Fieber und Schüttelfrost im Bett sei.
Zegai rief einen äthiopischen Arzt an, der sofort kam. Als er ins Schlafzimmer eintrat, sagte er: „Malaria. Ich habe sie 12 Jahre lang gehabt.“ Ich bekam Chinintabletten und am nächsten Tag fühlte ich mich viel besser. Das Fieber ging zurück und Gott sei Dank war ich in ein paar Tagen völlig in Ordnung. Der Arzt erklärte mir, dass das Fieber in einem Monat zurückkommen könnte. Wenn das der Fall sein sollte, müsste ich mit Spritzen im Krankenhaus behandelt werden. Ich hoffte sehr, dass das nicht eintreffen würde. Gott sei Dank, die Malaria kam nicht wieder.
Die Tollwut
Einer der Hunde, die unten am Eingang des Hotels bei den Wächtern waren, bekam die Tollwut. Diese Krankheit kann sich auf Menschen wie Tiere übertragen. Fritz und ich haben Tiere gern und wenn immer wir zu Fuß bei den Wächtern vorbei gingen, streichelten wir öfters die Hunde. Natürlich passierte es, dass sie mit der langen Zunge unsere Hände ableckten oder wir mit der Schnauze begrüßt wurden. Obendrauf sprang eine wilde Katze auf Fritz, als er auf dem Weg zur Küche war und verabreichte ihm mit den Krallen ein paar schöne Kratzer. Nach reichlicher Überlegung und nach Absprache mit unserem Hotelarzt entschlossen wir uns, die Vorsichtsmassnahme zu ergreifen und uns impfen zu lassen. Aber welch ein Entschluss! Wir bekamen jeden Tag eine l0 ml Spritze in den Bauch, das heißt ins Zwerchfell. Das war die alte Methode, die damals in Äthiopien angewandt wurde. Wir konnten es etwa bis zur fünften Impfung aushalten, aber danach war unser ganzer Bauch rot, blau und grün, tat weh und klar denken konnten wir auch nicht mehr. Um sicher zu gehen fuhr Fritz nicht mehr Auto und wir nahmen ein Taxi ins Spital. Eines Nachmittags, als ich auf ihn wartete, hörte ich ein lautes Jammern aus dem Nebenzimmer. Die Krankenschwester stach Fritz an der Stelle in den Bauch, die entzündet war. Die Leute im Wartezimmer lächelten. Die Krankenschwester kam mit gesenktem Kopf aus dem Behandlungszimmer.
Ich begann, jeden Tag zu schwimmen in der Hoffnung, dass das Medikament sich schneller verteilen würde. Dabei zogen sich die Bauch- und Brustmuskeln zusammen mit dem Ergebnis, dass ich gebückt wie eine alte Frau ging. Mein Herz fing heftig an zu schlagen, weil die Muskeln sich verspannten. Zum ersten Mal hatte ich Angst um mein Leben. Einige Wärmebehandlungen im Krankenhaus halfen, die Muskelstörungen zu lindern. Wir waren erleichtert, als die letzte Impfung vorbei war und das Leben wieder seinen normalen Lauf nahm. Ein Kellner im Hotel nahm auch die Tollwutimpfungen, hörte aber nach der fünften Spritze auf. Er behauptete es wäre ihm egal, ob er leben oder sterben würde.
Kurze Zeit darauf sollte auch bei der Familie Röschli die Tollwut bei den Tieren ausgebrochen sein. David und Marlies wussten zuerst nicht, was es war. Weil sie so lange gewartet hatten, bekamen sie und die Kinder den Impfstoff in den Nacken gespritzt, damit es schneller wirke, und zwar vom Kleinsten bis zum Größten. Die Eltern versprachen allen 10 Kindern eine Glace, wenn sie durchhalten würden und nicht weinten. Am ersten Sonntag nach den Impfungen machten sich alle bereit und fuhren mit den Kindern in die Stadt. Dort erhielten sie die versprochene Glace und anschließend besuchten sie uns. Ich war sehr beeindruckt, dass jeder ohne Tränen durchgehalten hatte. Als der Nachmittag endete, spendierte Fritz ihnen allen eine weitere, gemischte Glace.
Es kann recht kompliziert sein, wenn etwas passiert in einer so großen Familie wie der von Röschlis. An einem Sonntagnachmittag genoss die ganze Familie zum Dessert einen zwei Tage alten Kuchen, den sie gekauft hatten. Großzügig gaben sie ihrer Katze ein Stück davon. Bald darauf fing die Katze an zu stöhnen und verhielt sich ganz seltsam. David und Marlies bekamen Angst und überlegten, ob der Kuchen noch gut war. Zur Sicherheit stopften sie die zehn Kinder in den Minibus und fuhren ins Krankenhaus. Dort ließen sie sich alle den Magen auspumpen, um ja sicher zu sein, keine Vergiftung zu bekommen. Als sie zurückkamen, hatte die Katze Junge bekommen und somit war die Aufregung umsonst gewesen.
Man musste sich fragen, wie Marlies Zeit fand, sich mit einer so großen Familie zwischendurch zu entspannen. Eines Tages vernahm ich, dass sie sich nicht wohl fühlte und so beschloss ich, sie zu besuchen. Ich fand sie auf der Couch liegend mit einem Buch in der Hand. In der anderen Hand hatte sie einen Apfel, den sie aß und gelegentlich hoch hielt, so dass der Hahn „Schneewissli“, der auf der Polsterlehne stand, mit Vergnügen davon picken konnte. Marlies hatte diesen Hahn zu ihrem Lieblingstier gemacht und er war sehr zutraulich. Wenn sie ihn rief, kam er sofort. Die Familie hatte öfters Campingreisen unternommen und der Hahn kam mit, denn sie konnte sich keinen besseren Wachthund vorstellen – oder wenigstens behaupteten sie das. Marlies liebte ihre Hühner. Es gab nur eine unangenehme Seite, die sie nicht gerne mit der Familie teilen wollte. Sie half in allen Arbeiten mit, die auf dem Hof anstanden, außer wenn es ums Schlachten ihrer Hühner ging. Diese Arbeit überließ sie den anderen und verzog sich ins Haus.
Die erste Schritte in Richtung Glauben
Wir wussten, dass David und Marlies gläubig waren und dass sie jeden Sonntag mit ihren Kindern in die Kirche gingen. Es war etwas Ungewöhnliches an ihnen, sie konnten immer spüren, wenn jemand etwas hatte und waren interessiert am Wohlbefinden der anderen. Anfangs sprachen sie nur zögernd über den Glauben. Sie gaben stattdessen ein Beispiel über das, was in der Bibel steht; seinen Nächsten zu lieben wie sich selbst. Das ist das zweitgrößte Gebot in der Bibel und das größte ist: “Du sollst Gott den Herrn lieben von ganzem Herzen und mit aller Kraft“.
Während unserem ersten Ehejahr arbeitete Fritz regelmäßig am Sonntag. Ich besuchte am Morgen die deutsche Kirche. Einige Male war ich etwas verspätet und sie hatten schon angefangen zu singen, als ich ankam. Ich fühlte, als ob die Hymnen mich in die Kirche zogen. Ich fing an, Gott zu suchen und sehnte mich auf den Sonntag. Die Predigt wirkte in meinem Herzen. Mit einer echten Überzeugung sprach der Pfarrer davon, dass durch Jesus Christus die ganze Vergebung der Sünden empfangen war. Ich glaubte daran und wusste: Das ist es, was ich brauche. Die Bibel sagt, dass alle gesündigt haben und Vergebung brauchen, um die Herrlichkeit Gottes zu erlangen. Der Pastor predigte in Deutsch mit amerikanischem Akzent. Er kam aus Amerika, lebte einige Zeit in Deutschland und heiratete eine deutsche Frau. Beide dachten, dass sie keine Kinder haben könnten wegen einer Krankheit – aber bei Gott ist alles möglich. Ein Kind nach dem anderen wurde geboren. Sie hatten insgesamt fünf Kinder.
In der Nähe von Addis Abeba befand sich ein Heim für invalide Kinder. Zusammen mit Röschlis besuchten wir das Heim. Alles war sehr einfach. Sie hatten nicht einmal Stühle für die Kinder zum Sitzen. David und Fritz kamen überein, dass diesem Heim geholfen werden musste. Sie bestellten bei einem Schreiner, den David kannte, für jedes Kind einen Stuhl und mit viel Freude wurden diese von dem Schweizer Missionsehepaar angenommen.
Einmal wurden wir von der schweizerischen Botschaft zu einer Cocktail Party im Hotel eingeladen. Ich kam ins Gespräch mit einem Missionsehepaar. Ich erzählte ihnen von unserem Fritzli. Dabei bekam ich eine interessante Geschichte zu hören. Als sie in der Erwartung war, bekam sie die Masern. Der Arzt hatte ihnen mitgeteilt, dass die Möglichkeit bestehen würde, dass das Kind blind auf die Welt kommen würde. Mit diesem Gedanken im Hintergrund bereiteten sie sich vor, ein behindertes Kind zu kriegen. Als es dann geboren wurde, kam ein vollständig gesundes Kind zur Welt und die Freude der Eltern war doppelt groß.
Es war die Idee von Fritz, dass wir anfangen sollten, regelmäßig für Fritzli zu beten. Mit gefalteten Händen und ein paar einfachen Sätzen gaben wir Gott zu verstehen, was uns berührte und baten Ihn um Hilfe. Ich erfuhr eine zweite Seite von Fritz, die ich vorher nicht gekannt hatte. Er erzählte mir, dass er mit 16 Jahren einen ganz außergewöhnlichen Traum hatte. Er träumte Folgendes:
Fritz stand neben dem Bett und betrachtete seinen toten Körper. Im Traum war ihm bewusst, dass seine Familie beim Frühstück war. Weil er nicht in die Küche gekommen war, wollte seine Schwester Yvonne ihn wecken. Sie klopfte einige Male an die Tür, doch Fritz gab keine Antwort. Sie ging in sein Zimmer und versuchte, ihn wach zu rütteln. Doch mit Schrecken stellte sie fest, dass sein Körper ganz steif und kalt war und er nicht mehr atmete. Vergeblich rief sie seinen Namen und schüttelte ihn. Voller Verzweiflung rannte sie weinend die Treppe hinunter in die Küche und sagte, Fritz sei tot. Alle stürzten in sein Zimmer und Fritz versuchte ihnen zu erklären, dass er nicht gestorben sei, sondern neben ihnen stehe; aber niemand hörte oder sah ihn. Er sah, wie sein Vater einen Sarg bestellte und die Bestattungs-männer kamen. Nach drei Tagen schlossen sie den Sarg und weil sie nicht weit von der Kirche entfernt wohnten, trugen ihn seine Schulkameraden auf ihren Schultern dorthin. Fritz ging mit in die Kirche und hörte sich an, dass er persönlich gestorben sei und wie der Herr Pfarrer so schön über ihn sprach. „Fast zu gut“, dachte er. Anschließend gingen alle auf den Friedhof und senkten den Sarg ins Grab. Alle Verwandten und Schulkameraden standen daneben und weinten. Das war nun zuviel für Fritz und er ging fort. Er wanderte durch ein schönes Tal. Der Weg ging geradeaus, die Sonne schien, Vögel sangen und er fühlte sich sehr glücklich. Er kam zu einer Kreuzung. Ein schmaler Weg führte nach rechts auf einen Hügel, der andere ging geradeaus auf einen Bauernhof zu. Er überlegte, welchen Weg er gehen sollte und entschloss sich, zum Bauernhof zu gehen. Vielleicht würde er dort jemanden antreffen. Dort angekommen, klopfte er an die Haustür, doch niemand öffnete. So ging er zur Tenne und rief, ob jemand da sei, aber auch da war keine Antwort zu hören. So öffnete er die kleine Tür am Tennentor und ging hinein. Die ganze Tenne war leer. Auf einmal krachte die kleine Tür hinter ihm zu. Er versuchte, sie wieder zu öffnen, aber sie war wie verriegelt. Da wurde es ihm ganz unheimlich zumute und er bekam Angst. Auf einmal sah er am anderen Ende der Tenne, wie der Boden abbrach und das immer mehr. Er sah Lava heraufkommen und die nahm mehr und mehr vom Boden ein und kam näher und näher. Dann sah er Menschen in der Lava, die um Hilfe riefen. Zuletzt fiel auch Fritz in die flüssige, heiße Lava hinein. Doch in diesem Moment wachte er schweißgebadet in seinem Bett auf und war überaus dankbar, dass er lebte und alles nur ein Traum gewesen war.
In den folgenden Wochen kam eine Zeltmission nach Aarau und das Thema war: „Fünf Minuten nach dem Tode“. Sehr angezogen von den fünf Worten, besonders nach dem eindrucksvollen Traum, entschied Fritz sich, diese Abendversammlung zu besuchen. Die Predigt war für ihn und für die vielen Menschen, die anwesend waren, wie maßgeschneidert. Der Evangelist erklärte die Schrift sehr genau und was zu erwarten sein könnte, wenn der Tod eintreffen wird. Er erklärte, dass man sich vorher entscheiden muss, weil es nach dem Tod zu spät sei. Wie Recht er doch hatte. Fritz war tief berührt. Er verstand, dass es eine Wahl gibt und er entschied sich für Gott und nahm die Einladung an. Er hörte, was gesagt wurde: „Denjenigen, die Jesus Christus angenommen haben, wird Gott die Kraft und Weisheit geben, seine Kinder zu werden.“
Fritz ging damals zur Weiterbildung nach Aarau, eine Stadt, die 10 km von seinem Wohnort lag. In der Schule lag er bis dahin unter dem Durchschnitt und seine Eltern machten sich Sorgen, ob er in allen Fächern durchkommen würde. Drei Wochen nach dieser Entscheidung hatte er einen ungewöhnlichen Traum. Er träumte, wie eine weiße Taube durch einen Ring flog und als er erwachte, war er sicher, dass Gott ihm helfen würde. Er wurde besser und besser in der Schule und er schloss mit guten Noten ab. Er war überzeugt, dass er dies nur mit Gottes Hilfe geschafft hatte.
Seine Berufslehre als Koch, die er im Sommer in Lugano und im Winter in Gstaad absolvierte, dauerte drei Jahre. Es folgte ein halbes Jahr in Genf im Hotel des Berges, aber bald musste er in die Rekrutenschule, darauf folgte die Küchenchef-Schule und so wurde er Korporal. Anschließend kam das Abverdienen in verschiedenen Militär-Flugküchen. In der Schweiz ist es so, dass die Ausbildungszeit im Militär nicht so lange dauert, aber dafür müssen die Wehrpflichtigen einige Jahre lang Wiederholungskurse von drei Wochen hinter sich bringen. Wenn sie diese Wiederholungskurse nicht besuchen wegen Auslandaufenthalt, dann müssen sie jedes Jahr einen gewissen Betrag bezahlen.
Nach dem Militär arbeitete Fritz noch eine Wintersaison in Villar sur Ollon und dann zog es ihn ins Ausland. Er erhielt eine Stelle im Hotel Intercontinental in Oslo, wo ein Schweizer Küchenchef war. Der Chef merkte schnell, dass Fritz ein Streber war und seine Arbeit schnell begriff. Nach nur zwei Monaten in verschiedenen Abteilungen wurde er Chef Rôtisseur und arbeitete wie die schon älteren Chef de Parties. In dieser Zeit trafen wir uns. Fritz sprach schlecht Norwegisch. Doch nach zwei Monaten und vielen langen Spaziergängen, sprach er schon ganz gut und er wurde immer besser in der norwegischen Sprache, die er dringend bei seiner Arbeit brauchte.
Fritz erzählte viel von sich und wie ein schützender Engel ihn immer bewahrte. In Norwegen hatten sie alte Fonduebrenner mit drei Dochten zum Anzünden. Einmal, als Fritz den zweiten Docht anzünden wollte, explodierte es und der Brennsprit verbrannte ihm das Gesicht und auch die Hornhaut der Augen. Er sah nichts mehr und rief um Hilfe. Jemand kam und löschte die Flammen, danach wurde er schnell ins Spital gebracht. Zuerst bekam er eine Spritze. Als er aufwachte, lag er im Krankenbett. Seine Augen waren mit einer wässerigen Flüssigkeit gefüllt – und zugeklebt worden. Ein Verband war um seinen Kopf gewickelt, den er mit seinen Händen fühlen konnte.
Im gleichen Raum war ein Patient mit schweren Verbrennungen von Nitroglyzerin. Er jammerte viel und es hatte einen starken Geruch im Zimmer. Nach Beurteilung des Geruchs war da etwas Schlimmes passiert. Das Pflegepersonal stellte eine Wand zwischen die Betten. Am dritten Tag nahmen sie bei Fritz den Verband vom Kopf weg, aber die Augen blieben verschlossen und so war er weiterhin auf Hilfe angewiesen. Nach einer Woche im Spital stieß der Bettnachbar unvorsichtigerweise mit der Hand an die Zwischenwand. Die Wand fiel auf Fritz, der erschrak und einen Schrei ausstieß. Er riss die Augen auf und es gelang ihm, etwas zu sehen, aber alles war verschwommen. Ein Arzt wurde geholt und er erklärte Fritz, dass sich die Augen allmählich erholen würden und er brauche sich keine Sorgen zu machen. Langsam konnte er besser sehen. Nach einer Weile traute er sich, sich in einem Spiegel anzusehen. Was er sah, war nicht sehr ermutigend. Sein Gesicht war von den Verbrennungen ganz rot und er hatte an drei Orten lange Narben. Tränen rollten ihm über die Wangen. Nach zwei Wochen wurde er wieder nach Hause geschickt. Die hässlichen Narben wurden später sorgfältig abgeschliffen und er bekam Gesichtsmassage mit Salbe. Wieder war ein Wunder geschehen und nach ein paar Monaten sah man fast nichts mehr.
Früher in seinem Dienstjahr beim Militär wurde er an einem Abend oben im Engadin zur Wache eingeteilt. Es war bitterkalt. Die Soldaten der Wache bekamen dicke Mäntel mit Helm und Kapuze. Fritz musste draußen bei einer Kälte von minus 20 Grad seine Runden machen. Unvorsichtigerweise hatte er nur den Helm auf, aber nicht die dicke Kapuze. Als er zurückkam an die Wärme, juckten seine Ohren und er musste immer wieder kratzen. In einem Spiegel sah er, dass die Ohren ganz rot und geschwollen waren. Am nächsten Tag ging er zum Arzt. Dieser erklärte ihm, dass er seine Ohren verfroren hätte. Die nächsten acht Tage lief er mit einer dicken Bandage um den Kopf herum. Als man die wegnahm, waren die Ohren geschrumpft und waren kleiner, als sie vorher waren. Seine Ohren sollen in seiner Kindheit immer etwas groß gewesen sein und er wurde viel geneckt, weil er Eselsohren hätte. Das hörte sich ganz großartig an, aber ich glaubte ihm die Geschichte nicht so ganz, bis ich bei ihm zu Hause ein Foto sah. Wahrlich, Fritz hatte damals mit 15 Jahren sehr große Ohren und nun waren sie auf natürliche und ungewollte Weise kleiner geworden und das sozusagen ohne einen Rappen zu bezahlen.
Meine Zeit und meine Gedanken waren hauptsächlich dem Fritzli gewidmet. Wie würde seine Zukunft aussehen? Ich grübelte dieser Frage nach, besonders nachts, wenn Fritz in der Küche beschäftigt war. Als ich wieder einmal mit Fritzli den tschechoslowakischen Kinderarzt besuchte, sah er mich direkt an und sagte: „Mit so einem Kind wie Fritzli werden Sie viel Arbeit haben. Es wäre besser, ihn in ein Heim zu geben, wo für ihn gesorgt wird.“ Ich war total unglücklich bei diesem Gedanken und es tat mir innerlich sehr weh. Ich antwortete: „Er braucht mich sehr und er ist noch so klein.“ Schnell stand ich auf und verließ die Klinik mit Fritzli auf dem Arm. Draußen liefen die Tränen meine Wangen hinunter. Sollte der Tag kommen, an dem ich Fritzli loslassen müsste – das würde ich nicht übers Herz bringen. Eine innere Stimme sagte mir, dass ich mit dem Fritzli eine zeitlang weg gehen sollte, um Tag und Nacht Gott zu suchen – so viel würde es von meiner Seite benötigen. Aber wie konnte ich das als verheiratete Frau einrichten?
Die offiziellen Feste des Kaisers
Fritz hatte einen guten Namen als Chef. Seit unserer Ankunft wurden das Hotel und die Restaurants renoviert und vergrößert. Die Restaurants waren gut besetzt. Zusätzlich wurde noch ein weiteres Restaurant über die Strasse gebaut, so dass die Autos unten durch zum Hotel fahren konnten. Ein äthiopisches Restaurant wurde im originalen Stil gebaut, als sogenanntes Tukul (Rundhaus). Das Hotel gehörte dem Kaiser Haile Selassie und wurde verwaltet durch eine Stiftung. Alle Staatsbesuche und staatlichen Gala-Dinner wurden in unserem Hotel abgehalten. Während der Zeit, als Fritz für die Küche verantwortlich war, besuchte der Schah von Persien zweimal den Kaiser Haile Selassie. Auch der Präsident Charles de Gaulle, der König von Norwegen, die Königin von Holland sowie Präsident Keniata von Kenia kamen. Präsident Tito von Jugoslawien war auch öfters zu Besuch. Einmal verlangte die Ambassade die Menuvorschläge, die sie nach Belgrad weiterleiteten. Die Gegeneinladung zum Dinner wurde von Präsident Tito gespendet. In Belgrad wurde das Gala-Menu ausgewählt und Fritz umgehend zugestellt. Der Palast verlangte eine Kopie. Bei diesem Staatsbesuch war es so, dass der Kaiser dem Präsidenten Tito privat ein Willkommens- Dinner einen Tag vorher im Palast gab. An dem Tag, als die Delegation von Jugoslawien mit einigen Ministern zum Dinner in den Palast ging, stelte der Protokollchef der Jugoslawen fest, dass es das gleiche Menu war, das wir im Ghion Imperial Hotel am nächsten Tag servieren würden. Er kam sehr aufgeregt vom Palace ins Hotel und verlangte sofort den Generalmanager und den Chef. Fritz fiel aus allen Wolken. Wie konnte er ein Staatsbankett in 24 Stunden neu machen und dann auch noch drucken? Es blieb ihm nichts anderes übrig. Er telefonierte noch am gleichen Abend den wenigen Lieferanten, die es damals in Addis Abeba gab, die Esswaren importierten und stelte so ein neues Menü zusammen. Zum Dessert gab es frische Erdbeeren mit Eisparfait und Rahm. Die Erdbeeren mussten von einem deutschen Bauern, der 100 km von der Stadt wohnte, geholt werden. Auf jeden Fall war das Dinner ein Erfolg und Fritz bekam ein Assortiment von jugoslawischem Schnaps geschenkt.
Das dänische Königspaar kam auf einen Staatsbesuch. Sie gaben im Hilton Hotel eine Cocktail-Party für die dänische Kolonie. Die dänischen Frauen nutzten die Gelegenheit, sich lange, neue Ballkleider zu kaufen oder machen zu lassen. Ich ließ mir auch ein schönes, langes Kleid anfertigen. Das Muster war natürlich äthiopisch und aus von Hand gewobenem Stoff hergestellt. Wir wurden alle vorgestellt, Paar um Paar. Die Königin Ingrid imponierte mir sehr, sie konnte sich in mehreren Sprachen unterhalten. Sie begrüßte die Gäste und unterhielt sich interessiert mit einigen. Fritz und ich verneigten uns tief, wie es auch die anderen taten. König Friedrich sah nicht so gesund aus und so wie wir vernahmen, lebte er nicht mehr lange nach dem Besuch in Äthiopien.
Einmal bekam das Hotel von der Regierung den Auftrag, ein kaltes und warmes Buffet für 400 Personen zuzubereiten – und zwar nahe an der Grenze zu Kenia, 800 km von Addis Abeba entfernt. Dort wurde eine Brücke eingeweiht, die Kenia und Äthiopien auf dem Landweg verbinden sollte. Alle Speisen wurden einen Tage zuvor vorbereitet und in große Transportkisten mit den Schaustücken, Salaten und Desserts verpackt. Einen Tag vorher folgten einige Leute, Kellner und Köche mit einem Militärflugzeug an die Grenze, um das Buffet vorzubereiten. Früh am Morgen wurde das Essen auf Militärfahrzeuge geladen und auf den Flugplatz gefahren. Dort wurde alles in ein altes Transportflugzeug aus dem zweiten Weltkrieg eingeladen. Das Essen wurde in der Mitte des Flugzeuges angeschnallt und Fritz und seinen Leute saßen auf beiden Seiten. An der Grenze angekommen, landeten sie auf einem Militärflugplatz in der Wüste. Dort wurde alles auf Lastwagen umgeladen und zwei Stunden lang durch die Wüste und den Dschungel gefahren. Kaum waren sie angekommen, wurde ihnen mitgeteilt, dass der Kaiser bald landen würde. In schnellem Tempo wurde das Buffet aufgebaut. Sie waren erst halbfertig, als die Gäste ankamen. Der Helikopter mit dem Kaiser landete zum Entsetzen von allen Köchen nur 150 Meter vom Buffet entfernt. Fritz befahl sofort mit lauter Stimme: „Deckt alles Essen mit Tüchern zu und gebt, was ihr noch könnt, zurück in die Kisten. Als der vom Helikopter verursachte Wirbelsturm vorbei war, konnte Einiges nicht mehr gebraucht werden und verschwand in den Kisten. Die schönen frischen Erdbeeren, die der Kaiser liebte, waren mit Sand bedeckt. Zwei Köche rannten zum Fluss und wuschen die Erdbeeren. Nachher nahmen sie Mineralwasser und reinigten sie nochmals gründlich. Nichts wie los und wieder zurück ans Buffet. Niemand von den Gästen merkte etwas und alle waren soweit zufrieden. Der Kaiser bekam Erdbeeren, die verpackt waren, als Reserve.
Als die Gäste nach der Einweihung der Brücke abfuhren, kamen die Soldaten an das Buffet und verkosteten sich mit all dem, was übrig geblieben war. Nachdem alles vorbei war und die leeren Platten wieder verpackt in den Kisten und auf den Lastwagen geladen waren, fragte ein Offizier Fritz, ob er mit dem Militärhelikopter zum Flugplatz mitfliegen wolle, anstatt mit den Militärlastwagen zurückfahren. Er war sofort einverstanden, weil es für ihn der erste Flug mit einem Helikopter war. Als sie in der Luft waren, sahen sie mit Entsetzen große, dunkle Wolken auf sich zukommen. Fritz schloss die Augen und hoffte, dass der Pilot nicht dort hinein fliegen würde. Ach, oh weh, welch ein Horror! Der Pilot flog direkt in das Unwetter hinein. Der Helikopter schwankte hin und her, dann fiel er einige Meter hinunter, so dass es einem aus dem Sitz hob. Den Boden sah man nicht mehr, alles war nur noch dunkel. Starr vor Angst klammerte sich Fritz an den Sitz, schloss die Augen und betete zum Allmächtigen um Schutz. Nach 15 Minuten landeten sie auf dem Landestreifen, wo das alte Transportflugzeug auf sie wartete.
Auf dem Heimflug erzählte Abebe, der erste Sous-Chef, dass zwei Soldaten am Tag vorher am Fluss verschwunden seien. Man suchte sie überall, aber sie wurden nicht mehr gefunden. Anscheinend zeugten Blutspuren am Flussufer davon, dass sie eventuell von Krokodilen angegriffen und in den Fluss gezerrt worden waren. Abebe erzählte, dass keiner von den Köchen und Kellnern, die einen Tag vorher abgereist waren, sich gewaschen oder die Zähne geputzt hätten aus Angst, ein Krokodil könnte angreifen. Auch die Notdurft wurde neben dem Zelt verrichtet. Fritz gab nur noch zur Antwort: „…und wir haben dort die Erdbeeren gewaschen!“ Alle waren froh, gesund und wohlbehalten in Addis Abeba anzukommen.
Die Position des Kaisers Haile Selassie in Afrika war nicht einfach. Er stütze sich auf seine afrikanisch-arabischen Freunde, aber er versuchte, auch mit Israel auf gutem Fuß zu stehen. Das UNO-Gebäude für African Unity stand in Addis Abeba. Wenn sie Kongress hatten mit allen afrikanischen Staatsoberhäuptern, war das Ghion Hotel für andere Gäste geschlossen. Alles war ausgebucht für die Delegationen. Nur große, dunkle Limousinen standen vor dem Hotel, die die Gäste hin- und zurückfuhren. Das Hotel und sogar die Küche waren bewacht mit Soldaten und Leibwächtern und oft wurde in die Kochtöpfe geschaut und probiert, um ja sicher zu sein, dass keiner vergiftet wurde. Es herrschte immer eine ganz besondere Atmosphäre, solange die Konferenz dauerte.
Zum 75. Geburtstag des Kaisers gab es ein großes Fest mit Umzügen und am Abend ein Gala Dinner im Regierungsgebäude (Municipality). Alles was Rang und Namen hatte plus der ganze diplomatische Chor war eingeladen. Insgesamt sollten um die 2500 Gäste bewirtet werden. Das Ghion Imperial Hotel bekam den Auftrag für die gastronomischen Festlichkeiten. Fritz arbeitete mit seiner Brigade vier Tage lang ununterbrochen. Am Anfang war die Metzgerei am schlimmsten betroffen, denn sie mussten zuerst das Fleisch für die Terrinen und Pâté vorbereiten. Danach wurde alles Fleisch, das gebraten, gekocht und geschmort werden sollte, vorbereitet. Bekele war der Chef in der Metzgerei und er arbeitete drei Tage und Nächte durch, ohne zu schlafen, behauptete Fritz. Seine Kochjacke war bald so schwarz wie er selbst. Fritz fragte mich, ob ich mich um ihn kümmern würde. An der Rezeption bekam ich einen Schlüssel für ein Zimmer, wo er baden konnte. Zu der Zeit gab es keine Duschmöglichkeiten im Hotel. Ich öffnete den Hahn mit kaltem Wasser, um ihm zu zeigen, wie das Wasser in die Badewanne fließt und verließ das Zimmer. Am nächsten Tag, als ich ins Büro von Fritz ging, vermied er es, mich zu grüssen. Fritz versprach herauszufinden, was das Problem war. Nun – ich hatte den Kaltwasserhahn geöffnet und nicht den Warmwasserhahn und so badete er halt nur kalt. Fritz entschuldigte sich für mich und erklärte ihm das Missverständnis mit dem kalten Wasser.
Wie viele Geburtstage würde wohl der Kaiser noch feiern können, bis sein Ende kam? Vielleicht wäre es für alle Parteien besser gewesen, wenn er zu diesem Zeitpunkt den Thron seinem Nachfolger, das heißt dem Sohn seiner Tochter, übergeben hätte. Alle wussten, dass sein leiblicher Sohn im Krieg gegen die Italiener das Leben verloren hatte. Alle wohlgemeinten Warnungen, dass sich das Volk gegen ihn wenden könnte, ignorierte er. Die Situation im Land war nicht die beste. Wir hatten das letzte halbe Jahr beobachtet, dass alle größeren Städte ringsherum militärisch besetzt worden waren. Der Kaiser benutzte diese Taktik, dass die drei Armeen ein Auge aufeinander hatten. Die politische Situation war schon lange unsicher gewesen und wird fragten uns, ob der Kaiser verstand, was im Lande vor sich ging.
Das große Geburtstagsbuffet war an einem Sonntag. Am Montag darauf war ein anderes Buffet mit 1500 Personen angesagt. Eine Bierfabrik in der Nähe der Stadt sollte eröffnet werden. Fritz schlief gerade mal drei Stunden, aber viele der Köche arbeiteten durch. Angekommen am Ort, bemerkte Fritz, dass keine Tische für das Buffet aufgestellt worden waren. Wieder einmal hatten sie nicht genügend Zeit, um Änderungen vorzunehmen, bevor die Gäste eintrafen. Bierharassen wurden aufeinander gestellt, um ein Buffet herzustellen. Fritz machte schnell eine Runde im Gebäude und verlangte, dass man einige Türen aus den Angeln heben – und die Türfallen entfernen sollte, um diese als Tischplatten zu gebrauchen. Dieses gebastelte Buffet war in kürzester Zeit parat und gedeckt mit weißen Tischtüchern. Als die Gäste angekommen waren und ihr Apéro hatten, kam Fritz die großartige Idee, jedem Koch eine Geschenkspackung von vier Bierflaschen zu geben, als Dank für das, was sie in den letzten vier Tagen geleistet hatten. So schmutzig wie sie waren, konnten sie nämlich unmöglich hinter dem Buffet stehen. Alle waren sehr müde und mit den vier Bierflaschen in den Händen verschwanden sie in der Nähe im hohen Gras. Ein Teil der Kellner übernahm die Arbeit am Buffet und servierte die Gäste. Als alles fertig war, räumten die Kellner das Buffet auf. Nicht einer von den Köchen gab ein Lebenszeichen von sich, als einer der Hotel-Chauffeure mit dem Horn hupte. Zusammen gingen sie hinüber zum Gras. Alle waren eingeschlafen mit den Flaschen neben sich. Keiner schaffte es, mehr als zwei Bier zu trinken, bevor der Schlaf ihn überwältigte. Die Chauffeure fuhren die Busse neben sie und einer nach dem andern wurde an Händen und Füssen in den Bus geschleppt. Ich befand mich im Hotelgarten, als die Busse ankamen. Die Köche wurden schlafend aus dem Auto gezogen und ins Gras gelegt, wo sie ihren wohlverdienten Schlaf bis am Abend nachholten, bevor sie nach Hause gingen.
Abschied
Die politische Situation im Lande spitzte sich immer mehr zu. Es waren die Unsicherheit und der hilflose Zustand von Fritzli, die uns zum Entschluss brachten, das Land zu verlassen. Deshalb beschlossen wir, den Arbeitsvertrag mit dem Hotel nach mehr als 4 Jahren nicht mehr zu erneuern. Die Lage im Land verschlechterte sich zunehmend und auch die Gästezahl ging sehr zurück. Wir entschieden uns, zurück in die Schweiz zu reisen, besonders aber, um dem Fritzli so gut wie es möglich war, zu helfen. Es würde uns sicher schwer fallen, denn wir fühlten uns zu Hause in Äthiopien. Wir hatten viele gute Freunde bekommen. Besonders die Kochbrigade war Fritz sehr ans Herz gewachsen und es hatte sich eine gute Zusammenarbeit unter den Köchen entwickelt.
Hoteldirektor Hahn war der erste, der seinen Rücktritt bekannt gab. Er und seine Frau hatten beschlossen, zurück in die Schweiz zu reisen. Er erzählte uns, dass er den Krieg in Indien mit den Hindus und Moslems in Kalkutta miterlebt hatte und dabei mehrmals in Lebensgefahr gewesen sei. Fritz und ich kamen auf die Idee, die Schweizerkolonie einzuladen um ihnen ein schönes Abschiedsfest zu bereiten. Nach ein paar Tagen Bedenkzeit waren sie mit der Idee einverstanden, aber das Fest sollte nicht im Hotel abgehalten werden. Richard Schneider war ein Schweizer, der zu dieser Zeit General Manager der Crown Cork Kompanie war, die Deckel für Coca Cola und andere Mineralwasser herstellte. Er wohnte in einem schönen Haus mit einem Salon, der als Festsaal gebraucht werden konnte. Er willigte ein, einen Teil des Hauses bereit zu stellen. Die blinkenden Sterne am afrikanischen Himmel halfen mit, die angespannte Lage zu vergessen. Es kam einem vor, als ob die Engel Gottes über der Stadt Wache hielten. Ich dachte bei mir selber: „Dies ist ein wunderbares Land und wir werden es sehr vermissen vom Tag an, wo wir es verlassen werden.“ Wenn man eine Weile in einem Land gelebt hat, so stellt man irgendwann fest, dass man die Menschen gerne bekommt und etwas bleibt hängen. Es ist wie ein Samen, der ins Herz gesät wurde. Wir hatten auch einen Hinweis bekommen, dass David Röschli’s Geburtstag am gleichen Tag war, so machten wir ihm eine schöne Geburtstagstorte und feierten alle zusammen mit ihm. Es war ein wunderbares Fest. Die Engel mussten mitgefeiert und sich über die Menschenkinder gefreut haben, währenddem sie ihre schützenden Flügel ausbreiteten, bevor andere Kräfte die Kontrolle über das Land einnahmen.
Der Tag unserer Abreise kam und der Hotel-Chauffeur brachte uns an den Flughafen. Die Stunde der Trennung war gekommen. Mein Kindermädchen nahm Fritzli das letzte Mal in die Arme, während Fritz eincheckte. Plötzlich sah ich einen stattlichen Mann in Uniform geradewegs auf uns zukommen. Als er vor mir stand, begrüßte er mich, schlug seine Hacken zusammen und nahm die Hand hoch zur Mütze zum militärischen Gruß. Es war des Kaisers Spion. Er sah nicht mehr aus wie ein kranker, behinderter Mann. Auf der Vorderseite seiner Offiziersuniform hing eine Reihe von Medaillen. Jetzt sprach er ganz klar und zitterte nicht mehr mit den Händen. Ich musste an die vielen Male denken, an denen er in die Hotelküche kam und Suppe ass. In diesem Moment dämmerte es mir, dass der Mann mit uns Theater gespielt hatte und dass er wahrlich ein Spion war. Als ich nun den Offizier in der Abflughalle sah, wusste ich nicht, was ich sagen sollte. Er hatte uns während der ganzen Zeit irre geführt. Fritz kam schier aus dem Gleichgewicht. So etwas konnte er sich in seinen besten Träumen nicht vorstellen: vorher ein zitternder Bettler und nun ein stattlicher Offizier. Der Offizier bemerkte wohl, was in uns vorging. Er kam auf uns zu, schüttelte nochmals unsere Hände zum Abschied, grüsste, machte rechtsum kehrt und verließ den Flughafen.
Beim Einschecken gab es noch eine weitere kleine Aufregung, denn der Zöllner untersuchte die braune Aktentasche sehr genau. Er nahm alles heraus, drehte die Tasche um und schüttelte sie kräftig. Fritz war ganz bange, denn die Aktentasche verbarg ein Geheimnis. Vor einiger Zeit, als eine neue Strasse in Addis Abeba zum Piazza gebaut wurde, entdeckte man alte Marie Teresia Taler. Der Grund, wieso die Taler dorthin kamen war, dass die Äthiopier von damals ihren Reichtum in Krüge verschlossen und versteckten. Der Krug wurde irgendwo im Boden im Haus vergraben. Dies war ihre sichere Reserve in schweren Zeiten. Es kam öfters vor, dass die Menschen unerwartet starben, ohne jemandem zu sagen, wo das Geld versteckt war. So kam es, dass die Silbermünzen dort gefunden wurden und sicher heute noch gefunden werden können. Fritz war der Meinung, dass die Münzen einen großen Wert hätten und in der Schweiz könnte man gut Geld verdienen, wenn man sie verkaufen würde. Ich sah die Begeisterung von Fritz und konnte die Idee nicht verwerfen, doch ich fühlte, dass nicht alles in Ordnung war. Fritz wickelte die Münzen, eine nach der anderen, in einen Kartonstreifen, verpackte sie flach in einen Plastik und klebte sie am Boden der Aktentasche mit Klebstoff fest. Dort war eine kleine Klappe, mit der er die Münzen zudeckte. Auch diese klebte er am Boden fest. Mein Herz pochte heftig, während ich mit weit aufgerissenen Augen am Zoll stand. Schließlich bekamen wir die Tasche zurück und konnten sie wieder füllen und durch die letzte Kontrolle in die Abflughalle gehen. Fritz trocknete sich den Schweiß von der Stirne und sagte: „Gut, dass sie gehalten haben.“ Ich versprach mir, mich in Zukunft nie mehr in so ein gefährliches Experiment einzulassen.
Diese Aktentasche hatte übrigens eine besondere Geschichte von damals, als ich noch ledig war und im Krankenhaus in Oslo arbeitete. Neben Schokolade nahm ich normalerweise keine Geschenke an. Ein alter kranker Mann, dem die Aktentasche gehörte, wollte sie mir schenken. Ich wollte sie nicht annehmen. Da fing der Mann an zu weinen und erklärte, dass dies das einzige Eigentum sei, das er im Leben noch besäße und ich die einzige Person sei, die mit ihm immer freundlich umgegangen sei. Er wisse, dass er alt und sehr krank sei und nicht mehr lange leben würde und möchte mir nun die Tasche übergeben, bevor es zu spät sei. Er war Alkoholiker und hatte keinen festen Wohnsitz. Das Krankenhaus war eine gute Bleibe in den kalten Wintermonaten in Oslo, wo es bis zu 30 Grad unter Null gehen konnte. Ich war berührt von diesen Worten und nahm sie dankend an. Ja, diese Ledertasche kam mit mir überall auf der Welt und auch nach 30 Jahren sehe ich noch den alten Mann im weißen Hemd vor mir weinend stehen und höre ihn darum bitten, den wertvollsten Besitz, den er noch hatte, anzunehmen.
Es war voraussichtlich unser letzter Flug über dem schönen Afrika. Wir flogen zurück in die Zivilisation. Meine Gedanken schwebten immer noch bei den schönen braunen Kindern und den sonnigen Landschaften, die wir so lang miterleben durften. Im nächsten Moment wurde ich aus meinen Träumen herausgerissen. Das Flugzeug kam in ein Gewitter hinein und fiel unerwartet mehrere Meter hinunter. Eine Flugbegleiterin war dabei, die Passagiere mit Getränken aus dem Servicewagen zu bedienen, als durch den unkontrollierbaren Sturz die Gläser und Flaschen zur Decke flogen und zerbrachen, gefolgt von den Schreien der Passagieren. Die Stimmung in der Kabine war einen Moment lang sehr bedrückend. Der Einzige, der vergnügt war, war unser Fritzli. Er fand dieses überraschende Rütteln und Schütteln sehr lustig. Ich schloss das Kapitel von Äthiopien in meinen Gedanken ab. Ja, es war ein Land voller Überraschungen.
Wir hatten einen Zwischenstopp in Rom und mussten auf eine Swissair Maschine umsteigen, die ein paar Stunden später nach Zürich weiter flog. Fritz hatte auf einmal das Gefühl, dass nicht alles in Ordnung war mit unserem kleinen Hund Adulla. Er sollte unten im Cargo sein. Fritz meldete sich beim Bodenpersonal der Swissair. Die erklärten ihm, dass kein Hund an Bord der Swissair wäre. Fritz zeigte die Papiere und so ging die Fahndung nach dem kleinen Hündchen los. Einer vom Bodenpersonal nahm Fritz mit und brachte ihn zur Maschine der Swissair. Dort fanden sie unseren Hund nicht. Auch im Abteil für Tiere war Adulla nicht. Es war ein wirkliches Durcheinander, denn an diesem Tag war auch noch ein Streik des Bodenpersonals. Zuletzt ging ein Italiener mit Fritz zum Äthiopien Flugzeug und öffneten den Cargoraum. Als Fritz nach Adulla rief, fing dieser an zu bellen und zu jaulen. Gott sei Dank hatten wir ihn gefunden! Man gab ihm sofort Wasser und weiter ging es in die Swissair Maschine auf den Weg in die Schweiz.
Krieg in Äthiopien
In der Zeit, nachdem wir das Land verlassen hatten, hatte ich oft den gleichen Traum. Die Menschen versteckten sich in engen Gängen im Hotel und wenn sie durch den Garten gehen wollten, huschten sie von einem Ort zum anderen. Wir hatten gerade noch Zeit, das Land zu verlassen. Andere blieben ein bis zwei Jahre länger und sahen das bittere Ende. Sie hatten große Schwierigkeiten, aus dem Land zu kommen.
War es möglich, dass Gott seine schützende Hand vom Kaiser und seinem Reich genommen hatte, als er sich auf die Seite seiner arabischen Freunde wandte und Israel nicht mehr unterstützte? Von diesem Tag an ging es bergab. Kaiser Haile Selassie versuchte, Äthiopien aus dem Mittelalter zu befreien. Er schaffte das feudale System und die Sklaverei ab. Addis Abeba bekam eine Kanalisation und Frischwasser in allen Quartieren rund um die Stadt. Es wurde viel gebaut und es entstanden moderne Hochhäuser. Das Volk bekam eine Chance, sich ausbilden zu lassen. Es hätte sicher viel mehr getan werden können. Die Unzufriedenheit unter den Studierenden wurde immer deutlicher zu spüren. Nachdem die Regierung stürzte und das Militär mit Hilfe der Marxisten an die Macht kam, begann für das Volk eine schwere Zeit. Der Kaiser verschwand eines Tages von der Bildfläche. Die Mitglieder der Kaiserfamilie wurden festgenommen und an einen bewachten Ort gebracht. Alle männlichen Angehörigen der Kaiserfamilie wurden umgebracht. Andere, die irgendwie mit der Kaiserfamilie oder mit der alten Regierung zu tun gehabt hatten, wurden gefangen genommen und ebenfalls umgebracht. Über das Radio wurde mitgeteilt, dass die alte Regierung abgesetzt sei und eine neue Regierung fürs Volk eingesetzt würde. Es erschien auch eine Liste der sogenannten Verräter des Landes. Das Morden fing an, es gab kaum eine Familie, die nicht eine schreckliche Geschichte zu erzählen hatte. Auf dem Land war es offensichtlich schwieriger, die Menschen zu kontrollieren. Viele aber starben wie die Fliegen wegen der großen Dürre und der Hungersnot, die im Land ausbrach.
Die Familie Röschli mit ihren eigenen Kindern und den sechs adoptierten äthiopischen Kinder machte Pläne, zurück in die Schweiz zu gehen. Ein altes italienisches Ehepaar, das außerhalb der Stadt in der Nähe von Röschlis wohnte, einen großen, modernen Bauernhof mit vielen Kühen hatte und dazu ein stattliches Haus besaß, verlor alles. Unerwartet starb der Bauer. Die Witwe konnte den Hof nicht mehr führen, die Angestellten stahlen und machten, was sie wollten. Immer wieder verschwanden Kühe aus dem Stall und niemand wusste etwas davon. Eines Tages wurde der Witwe mitgeteilt, dass die Farm nicht mehr ihr gehöre. Ohne Entschädigung verließ sie das Land.
Ein wohlhabender Schweizer, der Kaffee exportierte, wartete wie viele andere zu lange, das Land zu verlassen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, schwarz über die äthiopische Grenze nach Kenia zu fliehen. Das Militär patrouillierte an allen Orten der Grenze, aber auf dem Land war es schwierig, alles unter Kontrolle zu haben.
Der Kaiser verschwand einfach aus der äthiopischen Szene. Man hörte Gerüchte, dass er ermordet wurde. Viele Jahre später wagte ein Soldat, der damals dabei war und ein schlechtes Gewissen hatte, zu reden! Der Kaiser sei im Schlaf erstickt worden. Er selber musste damals mithelfen, den Boden im Badezimmer des Palastes aufzubrechen. Dort wurde der Kaiser vergraben und der Boden wurde wieder mit Mosaiksteinen versiegelt wie vorher. Eine Untersuchung bestätigte die Richtigkeit der Aussage. Man fand die Überreste der Leiche des Kaisers. Er wurde stattlich und seinem Rang gemäß in einer Kirche beigesetzt, wo auch seine Vorfahren begraben sind. Die Aussage wurde weltweit in den Zeitungen veröffentlicht.
Zurück nach zwanzig Jahren
Zwanzig Jahre später, nachdem wir Äthiopien verlassen hatten, besuchte Fritz die Familie Röschli, die wieder zurück nach Addis Abeba gegangen war. Die älteste Tochter der sechs angenommen äthiopischen Kinder, Zehai, ging nach einigen Jahren Aufenthalt in der Schweiz zurück nach Äthiopien, das noch immer von den Kommunisten regiert wurde. Sie hatte gehört, wie schlimm es in Äthiopien zu und her ging wegen dem Krieg und der großen Hungersnot. Sie und ihre Geschwister waren selber Waisen gewesen. Damals öffneten David und Marlies ihr Haus und nahmen sie auf in ihre eigene Familie. Jetzt wo die Not am größten war, hatte Zehai den Wunsch, ein Heim zu gründen. Sie flog zurück nach Addis Abeba und legte ihr Anliegen der kommunistischen Regierung vor. Sie schenkten ihr großzügig ein Stück Land von 20 Hektaren. Die Bedingung war, dass sie innerhalb eines Jahres bauen musste – ansonsten würde das Land wieder zurück an die Regierung gehen. Die Adoptiveltern wurden eingeweiht in ihre Pläne und eine große Sammelaktion in der Schweiz begann. Die Eltern reisten zu ihrer Unterstützung nach Äthiopien. David entwarf die Baupläne für die ersten Häuser.
Nach wenigen Jahren wohnten über 400 Waisenkinder im Selam (Name des Heims). Es war zu einem kleinen Dorf herangewachsen. Sie hatten eine private Schule für über 1000 Kinder, die größtenteils aus der Umgebung kamen. Die örtlichen Schulen waren nicht so gut geführt und hatten zwei bis drei Schichten pro Tag. Weil für lange Zeit Krieg im Land herrschte, bestand ein großer Mangel an Lehrkräften. Nun sah man Tausende von jungen Menschen auf den Strassen von Addis Abeba, die in die Schulen gingen oder kamen. Ebenfalls hatte das Heim eine Klinik mit medizinischer Versorgung für die Heimkinder und arme Familien von außerhalb. Eine Baby-Abteilung wurde ebenfalls eingerichtet. Manchmal brachten die Mütter ihre neugeborenen Kinder nachts vor das Tor und verschwanden wieder. Es gab verschiedene Gründe, aber meistens konnten sie für ihr Kindlein nicht aufkommen.
Im Jahr 1999 war das Kinderheim in voller Blühe. Überall hatten sie schöne Gartenanlagen mit verschiedenem Gemüse und Obstbäumen, sowie ein Gewächshaus für Blumen und Pflanzen. Ein Kuhstall mit 40 wohlgenährten Kühen – weit über dem äthiopischen Standart – gehörte dazu. Nicht zu vergessen war eine große Hühnerfarm, die mithalf zur Selbstversorgung der Salem-Familie. Die neuste Ergänzung war ein Restaurant mit einer modernen Küche und einer Bäckerei, wo alles Brot selbst gebacken wurde. Einige jungen Mädchen aus dem Heim wurden nach der Schule zu Köchinnen ausgebildet. David Röschli war ein sehr praktisch begabter Mensch. Bei ihm konnten die jungen Knaben und Mädchen in verschiedenen Berufen eine Lehre absolvieren. Oberhalb des Kinderheims wurden – getrennt von den Waisenkindern – extra eine Werkstatt sowie Unterkünfte und Kantinen gebaut. Marlies konzentrierte sich hauptsächlich auf die Ausbildung der Mädchen, die das Haushaltungslehrjahr machten. Sie selber hat schon einige Bücher über ihre gesegnete Arbeit geschrieben.
Zu dieser Zeit wohnten wir in Singapur, wo Fritz bei der Singapur Airline Flugküche als Master Chef arbeitete. Er hatte mit seinen beiden Schwestern vereinbart, dass sie sich in Kairo treffen würden, um dann zusammen nach Addis Abeba weiter zu fliegen. Seine Schwestern kamen ein paar Tage vorher in Kairo an, um etwas von Ägypten zu sehen und zu erleben. Fritz informierte sich betreffs eines Visums nach Äthiopien bei der Ägypten Airline. Es wurde ihm mitgeteilt, dass er das Visum beim Einreisen erhalten würde. Als er und seine Schwestern am Flugplatz in Kairo ankamen hieß es, dass die Maschine der Äthiopien Airlines aus Moskau ein paar Stunden Verspätung hätte. Nach mehreren Stunden des Wartens ohne ein Zeichen der Ankunft des Fluges wurden die Passagiere, die nach Addis Abeba fliegen wollten, ungeduldig und fingen an, zu reklamieren. Der arme Äthiopier vom Bodenpersonal wusste sich nicht mehr zu wehren. Da stand Fritz auf und mit lauter und sicherer Stimme erklärte er die Situation und meinte, dass es besser sei, hier zu warten als zu verunglücken. Er sagte ihnen, dass er bei der Singapur Airline arbeite und es immer wieder vorkomme, dass Flüge Verspätung hätten wegen technischen Mängeln. Es wurde auf einmal totenstill ringsherum. Der Mann von Äthiopien Airlines kam rasch auf Fritz zu, reichte ihm die Hand und bedankte sich. Ein älterer, gut aussehender Äthiopier drückte ihm ebenfalls die Hand und dankte für seine Hilfe.
Endlich kam die Meldung, dass das Flugzeug von Moskau in Athen gelandet sei, aber zuerst repariert werden müsse. Das Flugzeug würde am nächsten Tag eintreffen. Alle Passagiere wurden ins Mövenpick Hotel einquartiert. Am nächsten Tag, nach einer langer Wartezeit am Flugplatz, kam dann die Maschine an. Die Passagiere, die von Moskau kamen, waren alle sehr müde, denn sie hatten die ganze Zeit im Flugzeug in Athen gewartet, bis die Maschine repariert war. Die meisten von ihnen waren äthiopische Studenten, die in Moskau studierten und auf dem Weg nach Addis Abeba waren. Ein eigentümlicher Geruch von Schweiß von den dunkelhäutigen Menschen im Flugzeug kam Fritz und den beiden Schwestern entgegen, als sie einstigen. Alle drei waren sehr froh, als die Maschine endlich startete und nach ein paar Stunden in Addis Abeba landete. Aber, oh weh, alles war geschlossen und verriegelt, weil nach 11 Uhr nachts in der Stadt Ausgangssperre war. Wenn jemand auf die Strasse ging, konnte es passieren, dass er erschossen wurde. Auf dem Flugplatz wurden die Reisepässe eingesammelt. Alle wurden in Polizeibusse verladen, die innen beleuchtet waren und mit Polizisten auf Fahrräder von vorne und hinten eskortiert wurden. So fuhren sie durch die verdunkelte Stadt ins Wabe Shebelle Hotel.
Wegen Platzmangel wurde Fritz mit einem älteren Äthiopier ins gleiche Zimmer mit einem Doppelbett einquartiert. Die Bettwäsche war noch ganz feucht, weil sie in letzter Minute gewaschen worden war. Fritz sah sich im Zimmer um und entdeckte eine Couch. Ohne zu zögern ließ er sich dort nieder, nahm seine Handtasche unter den Kopf und fiel in einen tiefen Schlaf. Am nächsten Tag wurden sie alle abgeholt und auf den Flughafen gebracht. Fritz entschloss sich, den Moment trotz allem zu genießen, denn so etwas würde er wahrscheinlich nie mehr erleben. Neugierig blickte er aus dem Fenster. Offenbar hatte sich nicht viel verändert, denn alles sah noch so aus, wie er es vor Jahren verlassen hatte.
Am Flugplatz wurden ihnen die Pässe ausgehändigt; nur den von Fritz behielten sie, weil er kein Visum hatte. Er musste zur Besprechung in ein Büro gehen. Ein Soldat mit einer Maschinenpistole hielt Wache vor der Tür. Ein Mann hinter einem Schreibtisch, der weder viel Interesse noch Verständnis für die Situation zeigte, verlangt, dass Fritz mit der nächsten Maschine zurückt geschickt werden sollte. Die Schwestern von Fritz, die draußen warteten, machten sich Sorgen. Es wurde ihnen erlaubt, auch ins Büro zu gehen. Im richtigen Moment sah Yvonne den älteren Äthiopier, mit dem sie am Tag zuvor in Kairo gesprochen hatten, am Fenster des Büros vorbei gehen. Schnell bat sie ihn, ins Büro zu kommen. Der Äthiopier und der Mann hinter dem Schreibtisch verließen das Büro für ungefähr zehn Minuten, dann kam der Mann total verändert wieder zurück. Er lächelte und erklärte, dass alles ein Missverständnis gewesen sei und drückte ein Visum in den Pass. Fritz brauchte ein paar Minuten, um die Situation zu verdauen wegen dem Schrecken, zurückgeschickt zu werden. Der alte Äthiopier, der Fritz geholfen hatte, wartete draußen. Er gab ihnen seine Visitenkarte und lud die drei zu sich ein. Sie sollten ihn in den nächsten Tagen anrufen.
Draußen vor der Ankunftshalle warteten Zehai, Marlies und David mit fröhlichen Gesichtern und mit ihrem großen Geländewagen, der Platz für alle hatte. Fritz erzählte die Geschichte mit der Polizei und dem netten Mann. Als Zehai die Visitenkarte sah, wusste sie sofort, wer es war. Der Mann hieß Atmasu und seine Aufgabe war es, herumzureisen und Medikamente für die Spitäler einzukaufen. In der gleichen Woche wurden Fritz, seine Schwestern sowie die drei Röschlis mit einigen führenden Ärzten von den Spitälern bei ihm zum Abendessen eingeladen.
Herr Atmasu lebte in einem großen, schönen Haus, das mit afrikanischen Sachen eingerichtet war, die er von überall her gesammelt hatte. Fritz nutzte die Gelegenheit zu fotografieren, damit er die vielen Eindrücke mit nach Hause nehmen konnte. Die Party war sehr erfolgreich. Sie lachten und plauderten und erzählten einander Geschichten, besonders von der Zeit, als die Kommunisten noch am Ruder waren. Die Ärzte erzählten, wie schwierig es war, als Arzt in Äthiopien zu arbeiten. Es mangelte an allem, besonders an Medizin. Deshalb brauchten die Ärzte zwischendurch eine Abwechslung in guter Gesellschaft. Der Grund, warum die Ärzte noch am Leben waren und den Krieg überstanden hatten war einfach: Die damalige Regierung brauchte sie. Als der Abend fortschritt, erhöhte sich die Stimmung und nach einigen Flaschen Cognac vergaßen auch die Ärzte den Alltag. David und Marlies hatten sich zurückgezogen, saßen in einer Ecke und flüsterten miteinander. Fritz fühlte, dass es Zeit war, sich zu verabschieden. Wie damals am Flughafen in Kairo stand er auf und sagte mit lauter Stimme, dass er jetzt mit seinem Gefolge Abschied nehmen möchte. Der Versuch, ihn zu überreden noch etwas länger zu bleiben, half nichts. So nahmen sie dankend Abschied von allen. Die Ärzte versprachen ihre Hilfe im Kinderheim, wenn Not sein sollte. Die Röschlis waren mit dem Besuch sehr zufrieden und sie meinten: „So eine Einladung bekommen wir nicht jeden Tag.“
David und Marlies kannten die Tochter des Kaisers, die noch am Leben war. Sie hatte früher die Hühnerfarm besucht. Sie vernahm, dass Fritz für einen Besuch zurückgekommen sei. Die Familie Röschli, Fritz und seine Schwestern wurden eingeladen. Fritz war sehr aufgeregt, denn früher hatte er festliche Buffets für den Kaiser und seine Familie gemacht. Groß war die Überraschung, die einst so vornehme Dame in einfachen Verhältnissen wiederzusehen. Sie persönlich hatte ein Doro Watt gekocht. Später kamen ihre Söhne von der Arbeit nach Hause. Ohne Zweifel war eine Menge passiert in der Zwischenzeit. Die Kaiserfamilie musste viel erleiden. Fritz entdeckte, dass, obwohl die Prinzessin in ärmlichen Verhältnissen lebte, immer noch eine feine Dame in ihr steckte. Sie hatte in früheren Tagen eine gute Ausbildung in der französischen Schweiz genossen und sie verstand es gut, eine lebendige Konversation zu führen.
Während dem zweiwöchigen Aufenthalt waren noch einige andere Einladungen auf dem Programm. Die größte Überraschung für Fritz war es, alte Freunde zu treffen. Einige Schweizer hatten äthiopische Frauen geheiratet und hatten die Revolution und die Zeit unter den Kommunisten überlebt. Eine dänische Freundin, die ich von früher her kannte, war mit ihrem Mann zurückgekommen, um ein Projekt auf dem Land zu leiten. Fritz und seine beiden Schwestern entschlossen sich, das Ghion Imperial Hotel zu besuchen. Es hieß nicht mehr Ghion Imperial Hotel. Das Wort „Imperial“ wurde von den Kommunisten gestrichen. Sie gingen ins Restaurant und bestellten etwas zum Essen. Einer der älteren Kellner erkannte Fritz wieder und begrüßte ihn freudig. Fritz fragte nach den übrig gebliebenen Angestellten, aber die meisten waren nicht mehr am Leben. Auch fragte er nach Hailu, den er damals vor über 20 Jahren als Bettler eingestellt hatte. Freudestrahlend erklärte ihm der alte Kellner, dass er immer noch im Hotel arbeite und nun Sous-Chef sei. Fritz war sehr überrascht. Wie hatte er das nur geschafft? Damals konnte er ja weder lesen noch schreiben. Ohne sich anzumelden begab sich Fritz direkt in die Küche. Hailu erkannte ihn sofort und begrüßte ihn überschwänglich. Während dem Krieg hatte Fritz oft an ihn gedacht und hoffte, er würde ihm zu einer Stelle in der Schweiz verhelfen können, damit er ein neues Leben anfangen könne. Hailu schluchzte und drückte Fritz an seine Brust. Dann zog er sich fein um – mit weißem Hemd und Krawatte – und zeigte ihnen das Hotel. Fritz bekam zu hören, dass Abebe, der damals der erste Stellvertreter von Fritz war, sowie viele andere, die besseren Positionen gehabt hatten, auf tragische Weise erschossen worden waren. Fritz musste ein paar Mal leer schlucken, um die Tränen zu verbergen, als er von Hailu Abschied nahm. Würden sie sich wieder treffen? Fritz versicherte ihm, dass er eines Tages wieder kommen würde.
Einige Jahre nach dem ersten Besuch von Fritz reisten wir zusammen zurück nach Äthiopien, um die Familie Röschli wieder zu besuchen. Für mich war es das erste Mal, nachdem wir das Land l970 verlassen hatten. Sobald ich in Addis Abeba ankam, empfand ich sofort, wie nahe das Gute und das Böse beieinander sind. Es kam einem vor, wie wenn es in der Luft liegen würde. Es gab immer noch viele Bettler auf der Strasse. Eines Abends, als wir von einer Einladung bei Atmasu zurück nach Hause fuhren, sahen wir entsetzt, dass sich eine große Hyäne neben einem Haufen Abfall befand – und das mitten in der Stadt. Wir wussten, dass Blinde und viele Waisen nachtsüber auf der Strasse schliefen. David versuchte, das Tier zu verjagen und fuhr mit dem Auto nahe an sie heran, konnte sie aber nicht so leicht einschüchtern. Wir bogen zurück auf die Strasse und ohne Hemmungen setzte die Hyäne ihre Malzeit fort.
Wir fragten im Ghion Hotel nach, ob jemand wisse, wo Bekele wohnte, der damals Chef in der Metzgerei war. Wir hatten Glück, konnten seinen Wohnsitz herausfinden und machten einen Besuch bei ihm. Wir fanden ihn in einer armseligen, kleinen Hütte. Mit schwacher Stimme und auf dem Bett liegend begrüßte er uns. Seine Frau arbeitete mit ein paar Kochtöpfen neben der Hütte unter einem Wellblechdach, da sonst kein Platz im Hause war. Bekele setzte sich auf und Fritz umarmte ihn herzlich nach äthiopischer Art. Er erkannte, in welch schwieriger Situation sein alter Mitarbeiter und Freund steckte. Nachdem wir einige Zeit miteinander geredet hatten, zog Fritz seine Brieftasche hervor und reichte ihm etwas Geld. Er versprach, dass mehr kommen würde. Dann kam eine weiß gekleidete, ganz abgemagerte Gestalt auf einem Stab gestützt in den Raum. Bekele stellte uns seinen Sohn vor. Er hatte früher auch im Ghion Hotel gearbeitet, war jetzt aber an Aids erkrankt. Mit schwerem Herzen verließen wir nach einiger Zeit die armselige Hütte und vereinbarten, die Familie durch Röschlis weiter zu unterstützen.
Zehai war mit einem älteren General befreundet, den sie gepflegt hatte, als er krank war. Sie bekam die Erlaubnis, dass wir gemeinsam den Palast besuchen – und sehen konnten, wie der Kaiser früher gewohnt hatte. Sie zeigten uns all die Geschenke, die der Kaiser und seine Vorgänger in den vielen Jahren bei Staatsbesuchen erhalten hatten. Sie waren im Untergrund in Geheimgängen gelagert worden und erst nachdem die kommunistische Regierung gewechselt hatte, wieder aus dem Versteck heraus geholt worden. Mit großer Bewunderung betrachteten wir die kostbaren Schätze aus mehreren Generationen. Es wurde uns mitgeteilt, dass sie ein kaiserliches Museum aus dem Palast planten zu machen, aber leider fehlten die finanziellen Mittel dazu. Was uns sehr beeindruckte, war das Privatgemach des Kaisers. Es bestand aus nur zwei Zimmern, einem Schlafzimmer und einem Raum mit einem langen Schrank, wo alle seine Kleider und Uniformen mit allem Zubehör in Reih und Glied aufgehängt waren. Auf dem Schrank lagen einige altmodischen Reisegepäckstücke. Das Schlafzimmer war sehr einfach eingerichtet. Wir hatten den Eindruck, dass er in Wirklichkeit ein bescheidener Mensch gewesen war. Das Schlafzimmer hatte ein Bett, auf der linken Seite stand ein altmodischer Nachttisch und daneben lagen seine Pantoffeln. Es war, als könnte der Kaiser gleich ins Schlafzimmer kommen. Alles war noch so, wie er es verlassen hatte. Auf dem Tisch in der Mitte des Raumes lag eine große Bibel. Wir stellen fest, dass überall an den Wänden Bibelverse aufgehängt waren. Es wurde uns gesagt, dass der Kaiser immer versuchte, das Land nach der Bibel zu regieren. Als wir vom Palast in den Park kamen, sahen wir einen Wärter mit einem gezähmten Leopard an der Leine. Zuerst wichen wir auf die Seite, denn so einem Raubtier frei zu begegnen, ist nicht gerade unsere Sache. Aber die Leute versicherten uns, dass er zahm sei und so getraute sich Fritz, ihn zu streicheln. Uns wurde erklärt, dass der Kaiser es liebte, wilde domestizierte Tiere im Garten zu haben. Zum Abschied wurde uns ein feiner Tee serviert. Fritz betonte, dass es schade sei, den Palast für die Touristen nicht zu öffnen, denn das könnte eine große Attraktion sein.
Auf der Fahrt zurück zum Selam schlug ich Fritz vor, auf den Merkato zu gehen und er war sofort einverstanden. Eine Schweizerfamilie, die bei Röschlis in den Ferien war, versuchte ich zu überreden mitzukommen, aber der Mann schüttelte den Kopf. Ich spürte, dass sie Angst hatten. Der Fahrer setzte uns am Eingang ab. Fritz stellte fest, dass der Markt viel größer war als zu der Zeit unter den Kommunisten. Die Händler präsentierten all die schönen und auch feinen, handgemachten Prunkstücke aus Gold und Silber. Natürlich musste ich auch bei den Textilien vorbei schauen und kaufte ein paar hübsche, handgewebte Stoffe. Es war schwer, die Augen von den schönen und wertvollen Sachen zu nehmen. Ich sah ein koptisches Kreuz, das sehr schön verziert war und kaufte es. Bevor es dunkel wurde, fuhren wir mit einem Taxi zurück ins Selam und kamen rechtzeitig zum Nachtessen mit den vielen Kindern an. Das war der letzte Tag für uns und das Ehepaar aus der Schweiz. Wir verabschiedeten uns und durften einige Worte der Ermunterung an die Kinder weitergeben. Ich ließ meinen Blick über die vielen lächelnden Kinder mit dem krausen Haar und den großen braunen Augen gleiten. Sie waren nicht nur Kinder, die eine Chance in ihrem Leben erhalten hatten, sondern auch kostbare Schätze, die in der Zukunft mithelfen würden, andere Kinder aufzubauen und auf den richtigen Weg zu leiten.
Ich werde nie den Tag vergessen, als wir den Gottesdienst für Lehrlinge besuchten, der jeden Morgen vor der Arbeit abgehalten wurde. Hunderte von jungen Christen mit guter Schulbildung lobten Gott, bevor sie die Arbeit begannen. Es war kein Wunder, dass Gottes Geist stark zu spüren war. Ich erinnere mich auch an die Gottesdienste für die etwas älteren Leute. Sie wurden von Marlies geleitet. Besonders eindrucksvoll war die Art und Weise, wie sich die Leute im afrikanischen Lobpreis ausdrückten.
Am letzten Tag unseres Aufenthaltes unternahmen wir früh am Morgen eine Fahrt durch die Stadt. Wir hatten vernommen, dass die Menschen wieder wie in der Vergangenheit in großen Scharen in die koptische Kirche gingen. Es war ein prächtiger Anblick, die vielen braunen Menschen in weißen Kleidern zu sehen, die zur Kirche hin strömten. Die sogenannte Jesus-Kirche war überfüllt und durch Lautsprecher hörten wir die Priester singen, predigen und segnen. Wie wir von Zahai vernahmen, hatte – wie an vielen anderen Orten auf der Welt – eine charismatische Bewegung in der Stadt begonnen. An einem bestimmten Tag in der Woche gab es Heilungsgottesdienste. Viele wurden geheilt, erklärte Zahai. Sie fügte hinzu, dass die Priester nur für die beteten, die bereit waren, sich unterrichten zu lassen. Der Gottesdienst dauerte den ganzen Tag. Als die Kirche voll war, wurden die Türen geschlossen. Eine große Menschenmenge musste den Gottesdienst von draußen durch die Lautsprecher, die an der Außenwand befestigt waren, erleben.
Die beste Zeit für Gott, mit den Menschen zu sprechen, ist, wenn sie in Not sind. Die beste Zeit für Gott, die Menschen zu prüfen, ist, wenn es ihnen gut geht. Sind wir Menschen trotz allem Fortschritt besser, als das Volk Israel im Alten Testament? Wenn es ihnen gut ging, vergaßen sie Gott und nahmen andere Götter an. Ging es ihnen schlecht, so kehrten sie sich zu Gott und er war ihnen wieder gnädig und errettete sie von ihren Plagen und Unterdrückern.
Nach einem erlebnisreichen Aufenthalt verließen wir Äthiopien.